Mittwoch, 17. November 2010

Zusammenfassende Schlußfolgerung

Zusammenfassende Schlußfolgerung

Gewisse Themen und Ideen in Der Frau ohne Schatten hatten wichtige Vorgänger in der Kunst. Einige davon sind hier einer kurzen Erwähnung würdig. Die Idee vom einem verlorenen Schatten genießt eine besonders starke literarische Tradition in deutschsprachigen Ländern, angefangen schon mit Adalbert von Chamissos weltweit bekanntem Märchen Peter Schlemihls wundersame Geschichte von 1814. Darin geht ein junger Mann mit dem Bösen einen Pakt ein, indem er einer Mephistopheles-ähnlichen Person einen Besitz verkauft, den er anfangs für wertlos hält – seinen eigenen Schatten – um dann im Nachhinein zu seinem großen Leid entdecken zu müssen, wie wichtig ihm dieses Symbol seiner eigentlichen Menschlichkeit war, denn ohne ihn kann er überhaupt nicht mit anderen Menschen – besonders bei Tageslicht – normal umgehen. Sein Leben ist ruiniert.

Drei Jahre davor, 1811, hatte Friedrich de la Motte Fouqué seinerseits ein Märchen veröffentlicht, Undine, die Geschichte einer Wassernymphe, die sich in einen Sterblichen verliebt hatte, und die sich eine menschliche Seele wünscht, um selber ein Mensch zu werden. Dies ist eine eindeutig ähnliche Situation zu der der Kaiserin bei Hofmannsthal, obwohl Undine durch den Verrat ihres treulosen Geliebten am Ende bitter enttäuscht wird.

Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (der Schriftsteller, Maler und Jurist der berühmten Erzählungen, der auch ein talentierter Komponist war) hat Fouqués Märchen vertont. Seine Oper Undine wurde 1816 uraufgeführt. Albert Lortzings gleichnamige Oper stammt von 1845. 1901 erschien dann Antonín Dvořáks Oper Rusalka, die auf demselben Stoff basiert. (Peter Ilich Tchaikowsky und Hans Werner Henze haben beide Balletstücke zu diesem Stoff komponiert.)

Nikolaus Lenaus Ballade von 1838 mit dem Titel Anna, obwohl in dem weiteren Europa weniger gut bekannt als Peter Schlemihl oder Undine, wird wohl dem Wiener Hugo von Hofmannsthal geläufig sein, denn ihr in Ungarn geborener Autor schrieb sie während seines Aufenthalts in Wien nieder. Lenaus Ballade basiert ihrerseits auf einem gleichnamigen schwedischen Volksmärchen, das um diese Zeit herum ins Deutsche übersetzt wurde. Es geht um eine Frau, die einen Pakt mit dem Bösen eingeht, wonach sie ihre ungeborenen Kinder gegen die Gabe der immerwährenden jugendlichen Schönheit verkauft. Am Ende ihres Lebens, gerade bevor sie der Tod in seiner Umarmung zu sich nimmt, offenbaren sich ihr die Geister ihrer ungeborenen Kinder in Form von sieben entkörperten, geisterhaften Kerzenflammen in einer kleinen Kapelle, und diese scheinen ihr liebevoll für das Unrecht, das sie ihnen angetan hatte, zu vergeben.

Letztendlich wird hier ein sehr gut bekannter Zeitgenosse von Hofmannsthal erwähnt, nämlich der belgische Schriftsteller Maurice Maeterlinck, der 1908 ein Stück mit dem Titel L’oiseau bleu [Der blaue Vogel] veröffentlichte, in welchem die jungen Personen des Stückes, von einer guten Fee und einem Zauberjuwel geholfen, zeitlich vorwärts durch den Todesschleier fahren dürfen, wo sie mit ihren verstorbenen Geschwistern und Großeltern sprechen dürfen. Sie dürfen auch bis in das vorirdische Dasein rücken, wo sie ihre eigenen ungeborenen Kinder antreffen und sich von ihnen in wichtigen Sachen wie die Wahl ihrer zukünftigen Ehepartner beraten lassen. 1922, drei Jahre nach der Uraufführung der Frau ohne Schatten, brachte Maeterlinck dann auch eine Fortsetzung des Stückes L’oiseau bleu heraus, die Les fiançailles [Die Vermählung] hieß.

Die Erwähnung dieser großen Werke soll daran erinnern, dass es viele andere im Kreise des deutschen und weiteren europäischen Schriftums sind, die in Zusammenhang mit unseren erwählten Texten erwähnt bzw. besprochen werden könnten. Darunter wäre z.B. aus den Jahren 1802-04 die berühmte Ode: Intimations of Immortality From Recollections of Early Childhood [Ode: Andeutungen der Unsterblichkeit aus Erinnerungen an die frühe Kindheit] des englischen romantischen Dichters William Wordsworth, ein langes Gedicht, in dem folgende Zeilen erscheinen: “Our birth is but a sleep and a forgetting: the soul that rises with us, our life’s Star, hath had elsewhere its setting, and cometh from afar: Not in entire forgetfulness, and not in utter nakedness, but trailing clouds of glory do we come from God, who is our home...” [“Unsere Geburt ist bloß ein Schlafen und ein Vergessen: Die Seele, die mit uns aufsteigt, unser Lebensstern, hat anderswo den Untergang erlebt und kommt von Ferne her. Nicht in gänzlicher Vergessenheit und nicht in ausgesprochener Nacktheit, sondern Wolken der Herrlichkeit nach uns ziehend kommen wir von Gott, der unser Zuhause ist.”]

Johann Wolfgang von Goethes Meisterwerk Faust erwirkt auch die Errettung seines ewig-strebenden, ewig-lernenden Helden durch das Eingreifen einer guten Frau, Gretchen, die Verkörperung für Goethe “des Ewig-Weiblichen” schlechthin.1

Friedrich Schillers Gedichte, z.B. Das Ideal und das Leben mit solchen Zeilen wie: “Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen...” oder seine bekanntere Ode: An die Freude von Beethovens neunter Symphonie zeigen, dass auch er solche erhabenen Gedanken hegte, die wir hier diskutieren. (Wir haben schon bei Fidelio die bekannten Schiller-Worte aus der neunten gesehen: “Wer ein holdes Weib errungen, stimm in unseren Jubel ein!”)

Weiter wären die beiden großen Gedichtzyklen von Rainer Marie Rilke erwähnenswert, die Sonette an Orpheus und die Duineser Elegien, die ich aber an anderer Stelle ausführlich kommentiert habe.2

Anstatt also weitere Werke3 zu katalogisieren oder zu sondieren, wollen wir nun unsere Analyse aufrunden und den Boden für weitere Diskussionen bearbeiten, indem wir uns fragen, was einige der endgültigen Implikationen von alledem sein könnten. Kurz, was haben wir von unseren Werken gelernt?

Präexistenz

Wir beginning mit der Einsicht, dass unser Leben schon vor der irdischen Geburt begonnen haben mag, und dass wir uns ausdrücklich entschlossen haben dürften, auf eine Erde zu kommen, wo das Böse in Hülle und Fülle vorzufinden ist, trotz unserer klaren Vorkenntnisse der Gefahren, die hier auf uns lauern würden, denn wir wollten unbedingt Menschen werden. Beide Wenders Filme, das Gedicht der Szymborska, das von Hesse und Hofmannsthals Die Frau ohne Schatten legen symbolisch nahe, dass Menschen früher in einer Art vorirdisches Dasein lebten, wo sie sich auf ihre irdische Aufenthaltsdauer vorbereitet haben, zum Teil dadurch, dass sie sich an dem Leben und an den Entscheidungen anderer aktiv teilgenommen haben, die ihnen schon ewig nahe standen.

Umgekehrt legen in diesen Werken diejenigen, die schon geboren sind, regen Anteil und grosses Interesse an dem Leben der Mitmenschen wie auch am Schicksal der Ungeborenen an den Tag, deren Existenz ihre Entscheidungen und Taten leitet, und dort oft Bedeutung und Sinn verleihen, wo sonst willkürlich gehandelt werden müsste, wenn man die anderen und das Leben selbst für Zufall hielte.

Als Symbol aber kann dieser Begriff viel breiter und faszinierender sein als reines Dogma. Es gibt viele Arten der symbolischen Präexistenz in unseren Werken. Parzivâl lebt z.B. anfangs in einer Art Paradies, zurückgezogen im Forst, und dann anschließend in verschiedenen Etappen vom kindlichen nicht-engagiert-Sein und von einer gewissen Ablehnung der Verantwortung, bis die Erfahrung und metanoia ihm endlich helfen, diese Art Präexistenz innerhalb der Existenz zu verlassen, um endlich wirklich ein Mensch zu werden.

Die Akrobatin Marion, obwohl sie genaugenommen schon am Leben ist, hat sich anfangs auch noch kein eigentliches “Leben” errungen im Sinne von einer wahren Identität und einer Ganzheit, die sie durch ihr Verhältnis zu Damiel, zu der kleinen Doria, zu Cassiel und zu den anderen im wachsenden Familienkreise der “Engel” schließlich gewinnt.

Hofmannsthals Kaiser, obwohl am Anfang dem Namen nach menschlich, leidet auch an einem ähnlichen nicht-engagiert-Sein, wohnt er ja doch in seinem getrennten soziologischen, wirtschaftlichen präexistenten Elfenbeinturm, ein Jäger nur und ein Verliebter, wie es die Amme abschätzend sieht. Mit der Zeit beginnt er aber seine Verantwortung zu den anderen, auch zu den Ungeborenen zu erkennen, bis schlußendlich sein “Herz aus Kristall mit einem Schrei zerbricht” und er seiner ehemalig ganz kristallenen Gattin schattenwerfend als Mensch zur Seite steht.

Und obwohl die kristallene Kaiserin am Anfang der Oper eine Stufe vom celestialen Reich nach unten gekommen war, indem sie ja schließlich einen Sterblichen geheiratet hatte, muß sie der Vorgang zum Menschen über die vielen anderen Stufen führen, auf denen sie lernen mußte, wie ein wahrer Mensch zu handeln, den anderen Menschen zu helfen und ihre wahre Größe zu erkennen. Sie beginnt, auch durch metanoia, den Färber Barak und seine Frau als grosse, mit-ewige Mitmenschen anzusehen. Barak und seine Frau erfahren einen ähnlichen Werdegang zum Menschen.

Apotheose, bzw. Gottwerdung, bzw. Vergottung

Wenn Menschen, die schon ewige Wesen sind, ihre verschienenen Arten von Präexistenz verlassen und wirklich menschlich werden, bezeugen unsere Texte von dem Paradox, dass diese Menschen auch dadurch ontologisch der Gottheit gleich kommen. Die Kaiserin, z.B., durch ihre schicksalhafte Entscheidung, lieber sich selber aufzuopfern als einer anderen den Schatten zu stehlen, erfährt, dass sie nicht nur eine irdische Prüfung bestanden hatte, sondern auch eine himmlische dazu. Sie ist vermutlich dieselbe Prüfung, die ihre himmlische Mutter und ihr Vater Keikobad einmal bestanden hatten, denn die Amme beklagt, dass die Kaiserin von der Mutter her den Trieb hatte zu den Menschen hin. Besagt dies etwa nicht, dass ihre Mutter, jetzt wohl eine Geistesfürstin, früher auch so ein kristallenes präexistentes Wesen war wie sie und hatte denselben Werdegang hinter sich?

Wir haben bei der Zauberflöte festgestellt, wie das Gottpaar Osiris und Isis den sterblichen Paaren in der Oper ein Vorbild sind, die, wenn “die Erde einmal ein Himmelreich” geworden sein wird, selber “den Göttern gleich” sein werden. Das analoge Paar im Rosenkavalier stehen laut Sophie “auf der himmlischen Schwell” und die beiden “werden beinander für Zeit und Ewigkeit sein.” Und die Marschallin, mindestens symbolisch, erreicht den Status einer Göttin sogar noch am Ende der Oper.

Marion und Damiel beginnen zusammen eine “Geschichte neuer Stammeltern” die sie dazu führen wird, wenn nicht buchstäblich Götter, dann mindestens Riesen zu sein, “unsichtbare, übertragbare Riesen.”

(Wenn Wenders und Handke an dieser Stelle “Götter” geschrieben hätten, hätte man sie noch lauter als Nazis! verschrieen.) Meineserachtens aber erfüllt das Wort Riesen die Spalte in unserem paradoxen Paradigma vollauf: Wenn ewige Wesen tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes Menschen werden, sind sie gleichzeitig, mirabile dictu, wahrlich auch Riesen, bzw. Götter: die Menschwerdung und die Gottwerdung sind ein Ding; wahre Menschen sind wahre Riesen, sind wahre Götter.

imitatio Christi

Eine der wichtigsten Eigenschaften dieser menschlichen Riesen bzw. Götter scheint die zu sein, dass sie willens sind, sich aufzuopfern, um andere zu erlösen und zu erretten. Daher ist eines der stärksten Argumente für die Gottwerdung in unseren Werken die Vorstellung von imitatio Christi, ein Zustand, in dem menschliche Personen göttliches Verhalten annehmen können – nicht etwa als eine blasphemische Usurpation des Göttlichen sondern als Bejahung und Nachahmung seiner Güte – um ihre Mitmenschen erlösen helfen und um anderen Sterblichen zu helfen, ihrerseits Götter zu werden, wie die Kaiserin, an der Schwelle zu ihrer eigenen Vergottung, dies für Barak und seine Frau tut.

Von ihrem Ziel durchleuchtet, ihren Gatten zu erlösen, ist sie sogar willens, ihr eigenes Blut zu vergießen, aus ihrem Blut das Lebenswasser zu machen, in dem er getauft und aus seinem todähnlichen Zustand erweckt werden könnte: “Hell ist in mir! Hell ist vor mir! Leidenschaftlich. Ich muß zu ihm! Wasser des Lebens, ich muß es erspüren, ihn besprengen – Wasser des Lebens – ist es das Blut aus diesen Adern? Fließe es hin, dass ich ihn wecke!”

Interessant ist, wieviele dieser Christusse in unseren Werken weiblich sind. Das erlösende Blut einer Christus-ähnlichen Frau zeigt den geheimnisvollen Wendepunkt von Wolframs Parzivâl, obwohl die Sache hier sehr subtil ist. Klar ist, dass Cundwîr âmûrs für Parzivâl eine Erlöserin ist, denn seine Gedanken haben in ihr einen Anker, als er durch die Welt auf der Suche nach Erlösung streift. Und obwohl Cundwîr âmûrs nicht etwa körperlich um ihres Gatten willen verwundet wird, heißt es doch, dass die drei Tropfen Blut im Schnee unserem Helden Cundwîr âmûrs Gesicht bedeutet haben, zwei davon ihre Wangen und der dritte ihr Kinn.

Warum mußten es wohl drei Blutstropfen sein, warum hätte Wolfram nicht genausogut drei Vögel oder drei Blätter im Schnee verwenden können? Die Antwort darauf dürfte lauten, dass gerade das Blut Cundwîr âmûrs symbolisch mit dem Blut vom Speer und von der Wunde im Gralstempel zusammen kettet, wo sie am Ende mit ihrem erlösten Gemahl ein frohes Wiedersehen erleben wird. Obwohl sie ihr eigenes Blut nicht hat vergießen lassen müssen, genau wie die Kaiserin, Leonore, Agathe, Pamina und Isis hat diese Retterin des Gatten für ihren Mann stellvertretend gelitten und hatte dadurch das Recht verdient, auf das erlösende Blut eines Anderen Anspruch zu erheben, das buchstäblich für die Erlösung anderer vergossen wurde, nämlich das Blut Christi.

In Wagners Parsifal, im Gegensatz dazu, obwohl sehr viel über das erlösende Blut Christi geredet wird, wird die weibliche errettende Figur auf die bußfertige Hälfte der Kundry reduziert, die wegen ihrer eigenen “Wagenladung Sünden” nur eine bescheidene Rolle als Erlöserin spielen darf. Als sie z.B. schnell einen Krug Wasser holt um damit Parsifals Haupt zu besprengen, wird sie liebevoll von Gurnemanz davon abgehalten, der ihr sagt: “Nicht so! Die heil’ge Quelle selbst erquicke unseres Pilgers Bad.” Sie darf zwar Parsifals Füße waschen und salben und sie mit ihren Haaren – Magdalenenartig – trocknen, aber Parsifal bittet dann ausdrücklich Gurnemanz, ihm das reinigende Wasser auf sein Haupt zu gießen und es zu salben.

Sowie die böse Hälfte der Kundry Parsifal nur eine perverse Art Apotheose anbieten konnte (“Mein volles Liebesumfangen läßt dich dann Gottheit erlangen!”) darf ihre bußfertige Hälfte nur nebensächlich an Parsifals Erlösung teilnehmen. Man könnte sagen, dass in dieser Oper die Retterin minimalisiert wird, auf eine halbe Figur reduziert.

Im Rosenkavalier ist es aber umgekehrt. Hier gibt es sogar zwei Retterinnen für den glücklichen Oktavian: die schöne unschuldige Sophie mit ihrem Gedächtnis vom Paradies und ihren Visionen von sich und Oktavian auf der himmlischen Schwelle, gerade dabei zum Paradies zurückzukehren, und eine bußfertige Sünderin, die nunmehr erhöhte Marschallin. Diese hat zwar mit der Kundry manches gemein, aber von den beiden Retterinnen im Rosenkavalier steht sie auch der Kaiserin ohne Schatten am nächsten, besonders im dritten Aufzug, denn dort wie hier unterziehen sich beide Frauen liebevoll einer mutigen und großartigen Entsagung, welche die Ehe einer Schwester und die Rechtschaffenheit ihres Ehemannes beschüzt.

Auch ihre letzte, ungesehene Tat in der Oper, ihr vermutlicher Befehl an den kleinen Mohammed, zurückzukehren und das gefallene Taschentuch zu suchen, legt Zeugnis von ihrer allwissenden, erlösenden Natur ab. Wie in den anderen Werken bringt die Güte der Marschallin Erlösung auch für einen breiteren Kreis: Sophies sehr empfindlicher Vater Faninal wird z.B. durch ihre Bedachtsamkeit vor Schande und Schmach gerettet.

Beethovens Leonore ist eindeutig eine gleichartige Figur: In Florestans sterbender Vision erscheint Leonore als Engel, der gekommen ist, ihn “zur Freiheit ins himmlische Reich” zu führen. Dann tritt sie buchstäblich als Mensch in sein Grab hinein, bereit, ihr Leben für ihn niederzulegen, wodurch sie die Retterin des Gatten wird. Aber ihre Rolle als Retterin, wie die der anderen Frauen in diesen Texten, ist auch eine erweiterte, denn sie hatte die Freiheit der anderen Gefangenen auch organisiert, vorerst vorübergehend und dann permanent, da sie den Bösewicht Don Pizarro endgültig übertrumpfen konnte.

Im Freischütz spielt Agathe dieselbe Engelsrolle, genau wie ein anderer Engel, nämlich Karl Engel, der (zweimal!) die Rolle des Erretters bei der kleinen Raisa spielt, wie auch bei seinen anderen Freunden auf dem Alekahn, darunter Marion und Damiel. Sein imitatio Christi wird durch seine sterbende Körperhaltung ikonographisch unterstrichen, die Arme nämlich ausgestreckt, als ob am Kreuze, und durch die klassische Kreuzabnahme, wobei seine trauernden und zugleich dankbaren Freunde seinen Leichnam vom symbolischen Kreuz zärtlich und liebevoll herunterlassen.

Parzivâl/Parsifal, dieser erlöste Erlöser, ist natürlich noch ein Beispiel von einem männlichen Erretter, und vielleicht das paradigmatischte Beispiel überhaupt, doch es bleibt interessant, wie oft die Erlöser in diesen ganzen Werken weiblichen Geschlechts sind.

Wir haben diese erlösenden Figuren verglichen und sich gegenübergestellt. Wäre es nun auch lohnend, etwas über ihre Gegenteile nachzudenken? Was können wir über die Ansprüche der wahren Menschlichkeit und der Apotheose von solchen Figuren wie Klingsor/Clinschor, Keie, Baron Ochs, dem Nazifilmmacher Anton Becker Senior, Don Pizarro, Monostatos, Samiel und Kaspar lernen? Was können wir von den negativen weiblichen Figuren wie z.B. die Amme und die Königin der Nacht lernen, die sich verblüffend ähneln, wo sie sich doch auf Hokus-Pokus, auf Lügen und besonders auf Zwang stützen? Was sind einige ihrer anderen grundlegenden Gemeinsamkeiten?

Was kann man schließlich über all die anderen Figuren in diesen Werken sagen, die auf einer Bandbreite oder Skala zwischen dem teuflischen Pol und dem göttlichen Pol verteilt erscheinen? Was soll man z.B. von Sarastro denken, oder von Papageno, aus der Zauberflöte? Von Anton Becker Junior und seiner Schwester Hanna, von dem alten Chauffeur Konrad, von dem Detektiven Philipp Winter, und von Peter Falk, Lou Reed und dem großzügigen Mann auf der Straße in den Wenders Filmen über Berlin? Was kann man noch zu dem alten Eremiten und zu Fürst Ottokar im Freischütz sagen, zu Don Fernando in Fidelio, zu Keikobad und Barak aus der Frau ohne Schatten, zu Gurnemanz, Trevrizent, Gâwân und König Artûs in Parzivâl?

Diese (zugegeben) überlange Liste der Figuren soll bloß eine Diskussion und weiteres Denken anregen, denn ich hätte meine Leser genausogut bitten können, die Implikationen folgender anscheinend willkürlicher Aussagen aus unseren Werken zu beurteilen, wie jene von Peter Falk: “Casseli: Life is an exceptional situation!” [Casseli: Das Leben ist eine außergewöhnliche Begebenheit!]

Oder die von Emit Flesti: “Time is a servant if you are its master. Time is your God, if you are its dog. We are the creators of Time, the victims of Time, and the killers of Time. Time is timeless. That’s the second thing. You are the clock, Cassiel.” [Die Zeit ist ein Diener, wenn du ihr Meister bist. Die Zeit ist dein Gott, wenn du ihr Hund bist. Wir sind die Schöpfer der Zeit, die Opfer der Zeit und die Mörder der Zeit. Die Zeit ist zeitlos. Das ist das zweite. Du bist die Uhr, Cassiel.]

Oder den Schlußdialog zwischen Cassiel und Raphela: “Ich habe die Welt durch deine Augen gesehen. Die Menschen sehen anders; sie sehen nicht mehr wie wir. Ihre Augen sind nur noch gewohnt zu nehmen, sie nehmen wahr, nehmen auf, ihre Blicke geben nicht mehr. Sie haben vergessen, dass das Licht durch das Auge ins Herz fällt und dann aus dem Herzen hinaus durch das Auge nach außen leuchtet. Der Kreislauf ist unterbrochen.”

Letzten Endes konnte ich hier nur andeuten, warum all diese Werke mich faszinieren. Ich wollte sie meinen Lesern in der Hoffnung vorführen, dass mindestens ein paar von ihnen sie genauso lohnend finden könnten wie ich. Daher frage ich stets nach den weiteren Implikationen. Schließlich ist für mich als Lehrer der größte Lohn zu sehen, wie meine Studenten mein Verständnis bei weitem überschreiten, denn sie bringen ihre eigenen, frischen Perspektiven zu diesen Werken mit. Und wenn irgendwelche Perspektiven auch nur einer anderen Person hier engagiert und erweitert werden konnten, bin ich es wohl zufrieden.

Alan Keele

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Fußnoten:

1Mein Kollege Prof. Dr. Hans-Wilhelm Kelling hat in einer Sondernummer der Zeitschrift Literature and Belief (Band 20.2, Jahrgang 2000, Ss. 99-122) einige sehr wertvolle “Thoughts on Goethe’s Religious Convictions” [Gedanken zu Goethes religiösen Überzeugungen”] veröffentlicht.

2Meine Einführungen in die englischen Übersetzungen dieser beiden Gedichtzyklen, die ich in Zusammenarbeit mit meinem Freund dem nunmehr verstorbenen Dichter Leslie Norris machte, stellen eine gute Übersicht über die Thematik dar. (The Sonnets to Orpheus – 1989– und The Duino Elegies – 1993 – beide in Columbia, South Carolina bei Camden House erschienen). Außerdem behandelt mein Artikel: “Poesis and the Great Tree of Being: A Holistic Reading of Rilke’s Sonette an Orpheus” (in: A Companion to the Works of Rainer Marie Rilke, Rochester, New York, Camden House, 2001, Ss. 209- 235) dieselbe Thematik.

3Gerade als ich dabei war, diese Worte zu schreiben, kam mein zweijähriger Enkel Andrew Alan ins Studierzimmer zu mir und wollte mit mir den Zeichentrickfilm von Disney, “Ariel: Die kleine Meeresjungfrau” anschauen. Obwohl ich diesen Film schon mehrmals gesehen haben muß, fällt mir im unmittelbaren Zusammenhang mit diesem Buch zum ersten Mal auf, wie ähnlich die Geschichten von der Meeresjungfrau Ariel, von der Undine und von der Frau ohne Schatten sind!