Sonntag, 21. November 2010

Kapitel Vier

Kapitel Vier

Wolframs Parzivâl und der wahre minnaere:
Die Erlösung des verwundeten Menschengeschlechts
durch Metanoia und durch Imitatio Christi

Der schwedische Filmregisseur Ingmar Bergman drehte 1973 eine köstliche Filmversion der Zauberflöte unter dem Titel Trollflöjten. Und obwohl er sich bekanntlich eine gewisse dichterische Freiheit mit dem Libretto erlaubte, bietet er dem Zuschauer bei wichtigen Aspekten des Werkes erstaunlich reichhaltige und fantasiereiche Interpretationsmöglichkeiten. Und obwohl ich nicht immer die Logik seiner Innovationen verstehe, z.B. dass er Sarastro zum Vater der Pamina und damit auch zum verfremdeten Exehemann der Königin der Nacht ummodelt (weil Sarastro dadurch nicht als idealistischer Hohepriester sondern als beteiligter Mitstreiter in einem chaotischen Sorgerechtsschlamassel erscheinen muss), respektiere ich im grossen Ganzen des genialen Künstlers Neuinterpretierung von Mozarts Meisterwerk.

Bergmann scheint z.B. von früh an seine Zuschauer vor der Königin und ihren Wahrheitsansprüchen warnen zu wollen. Da lässt er sie sogar mitten in ihrer ersten Aria Tamino aus den Augenwinkeln seitwärts neugierig anblicken – und das wird man wohl nur in einer Nahaufnahme im Film zeigen können, denn auf der Bühne sähe man wegen der Entfernung sowas gar nicht – als wollte sie feststellen, ob ihr Schwindel bei ihm ankommt.

Auch löst Bergmann ein uraltes Problem bei der Aufführung der Zauberflöte, indem er die drei Knaben von der Königin und ihren Jungfrauen durch einen schwarzen Schleier distanziert, der über die Frauen fällt und sie erstarren lässt als die Knaben zuerst erscheinen. In der Uraufführung sah man die Knaben noch nicht – sie haben ja mit den Damen und der Königin nichts gemein – sondern sie wurden hier nur von den Damen erwähnt. Bergmann scheint die Interpretationsproblematik zu verstehen, die dann bestünde, wenn die Knaben etwa aus dem Bereich der dunklen Königin zu stammen hätten.

Einer seiner entzückendsten Kunstgriffe ist der, das Drama über die Bühne hinaus als Theatrum Mundi auszubreiten, es von den Schauspielern auf die ganze Menschheit zu verallgemeinern. Er lässt in diesem seinem Welttheater vorerst zahllose Menschengesichter aller Menschentypen der Welt als Zuschauer vor der Bühne sitzen und webt sie rhythmisch in die beiden Overtüren ein. Immer wieder erscheint das Gesicht eines jungen Mädchens – es soll Bergmanns eigene Tochter gewesen sein – dessen Gesichtsausdrücke der Interpretation Nachdruck verleihen, wie sie z.B. bei dem geplanten Selbstmord von Pamina und Papageno zuerst besorgt finster drein blickt und nachher erleichtert aufatmet.

Ebenfalls sieht man den Sänger Håkan Hagegård wie er hinter den Kulissen faullenzend schlafend fast sein Stichwort verpasst, als wäre der Schauspieler mit dem faulen Papageno identisch. Während der Pause setzt sich die Schauspielerin Birgit Nordin sehr undamenhaft hin und steckt sich eine Zigarette an, und zwar direkt unter einem Schild worauf NO SMOKING (RAUCHEN VERBOTEN) steht, denn das ganze Theater – ein Nachbau des alten Hoftheaters Drottningholm aus dem 18. Jahrhundert – ist aus sehr brennbarem Holz. Sowas sieht der eigentlichen Königin der Nacht genau ähnlich.

Josef Köstlinger als Tamino und Irma Urrila als Pamina scheinen auch hinter den Kulissen ein Liebespaar zu sein – ihr Schachspiel gibt ein sehr schönes Tableau her – während einer der jungen Sklaven des Monostatos im Hintergrund sein Donald-Duck-Heft liest.

Ulrich Cold, als Sarastro, liest seinerseits mit grossem Interesse in der Pause die Partitur von Richard Wagners Parsifal. Damit wird Bergmann wohl zeigen wollen, dass Parsifal mit der Zauberflöte seelenverwandt, ja womöglich deren Erbe sei, wenn die Rolle des Sarastro etwa in die Rolle des Parsifal nahtlos überfließt. Am Ende der Zauberflöte steigt Sarastro auf einer Pyramide hoch, ihm wird von unsichtbarer Hand aus der Höhe seine eigene Zauberflöte gereicht und er geht nach oben, als wäre er von etwas Höherem inspiriert und auf ein Ziel zuginge, so anspruchsvoll und hochgesteckt wie Parsifal.

Unser Ziel ist auch anspruchsvoll und hochgesteckt, sogar doppelt hoch, denn wir werden nicht nur Wagners letztes grosses Musikdrama (erst 1882 zu Ende geführt) behandeln, sondern auch das außergewöhnliche Werk, worauf es basiert, nämlich die 24.810 Zeilen Wolframs von Eschenbach aus dem frühen 13. Jahrhundert, das wohl grösste und raffinierteste mittelhochdeutsche Epos: Parzivâl. Im Laufe unserer Diskussion werden wir viele bekannte Motive erkennen, Themen, auf welche dieses Buch sich konzentriert und welche vielleicht – wer weiss? – auch Bergmann dazu bewegten, die beiden Opern auf so raffinierte Weise zu koppeln.

Weil Wagner seine extrem komplexe Quelle stark vereinfacht und dabei ändert – einige sagen sogar: verschandelt und verstummt1 – wird es am Ende weniger verwirrend sein, wenn wir mit Wolframs Werk anfangen, eines der bedeutendsten Werke, neben Dantes Divina Commedia, des europäischen Mittelalters überhaupt.

Wolframs Held Parzivâl ist eine Figur, die in keltischen Überlieferungen aus Wales und Irland ihren Anfang hatte und höchstwahrscheinlich über die Kelten in der Bretagne auf das europäische Festland überliefert wurde, welche dahinflohen, als Brittanien (“Land der Kelten”) von germanischen Stämmen eingenommen wurde. Irgendwann fließen noch andere keltische Legenden dazu, die von König Artus mit seiner Tafelrunde, und die vom Gral.

In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, irgendwann nach 1160, verbindet dann der Franzose Chrétien de Troyes “Perceval,” Artus und Gral in seinem altfranzösischen, 9.234 Zeilen langen Fragment Li Contes del Graal, auf welches Wolfram etwa ein halbes Jahrhundert später – um 1210 – sein Gedicht basiert.

Solche Ahnenforschung der Quellen des Gedichts hilft uns zu verstehen, warum z.B. die Orts- und Personennamen so ungewöhnlich und schwierig sind: einige sind keltischen Ursprungs, an Wolfram über die Bretagne und das Altfranzösische überliefert. Außerhalb von Wales würde man heutzutage z.B. vielleicht nicht wissen, dass man dort zu England ‘Lloegr’ sagt, was wohl hinter Wolframs Löver steht. Andere Ortsnamen sind erkennbar (Baldac = Baghdad; Sibilje = Seville; Dolet = Toledo; Wâleis = Wales aber auch Valois?). Noch andere erscheinen erkennbar, besonders die in Asien (Ninivê, Dâmasc, Persîâ, Arâbî) und doch ist Wolframs Babilôn in Afrika und bezieht sich auf das heutige Cairo!2 Viele Namen sind Unikate und kommen nur bei Wolfram vor. Aber fast alle Figuren bei Wolfram haben ihren eigenen Namen, sei’s eine Zusammenstellung von Wolfram selber aus deutschen und französischen Vokabeln oder aus einer noch unbekannten Quelle, wogegen bei Chrétien nur die bekanntesten Figuren der Artuslegende Namen tragen.

Wie wir demnächst genauer sehen werden ist die Geographie des Gedichts – gespiegelt in den Ortsnamen – eine Mischung zwischen der bekannten Welt, nämlich Europa und der den Kreuzzüglern bekannten Gegenden des nahen Ostens einerseits, und einem phantasmagorischen Reich der religiösen Allegorie andererseits, welche auf dem heiligen Berg vom Haus des Herrn beruht, der nirgends zu finden und trotzdem immer überall gegenwärtig ist.

Da Wolframs Epos fast zweiundeinhalbmal länger ist als Chrétiens unvollendete Romanze, und weil der Sprecher im Gedicht behauptet, er habe nicht nur von Chrétien sondern auch von einem gewissen Kyot aus Toledo im maurischen Spanien übernommen, schien es den ersten Philologen (wie Johann Jakob Bodmer, der das Gedicht Mitte des 18. Jahrhunderts wiederentdeckte oder wie Karl Lachman,3 der es in einer wissenschaftlichen Edition 1833 redigierte und herausgab) auf der Hand zu liegen, Wolfram beim Wort zu nehmen.

Aber wie Karl Simrock4 als erster ungefähr 1857 argwöhnte, muss diese zweite Quelle notwendigerweise eine Fiktion sein, ein Dünkel des Erzählers, der damit dem Gedicht wohl eine Patina des Altertums und der Authentizität auftragen wollte und um sich gleichzeitig auch womöglich vorbeugend vor Vorwürfen der religiösen Irrlehre, ja der Ketzerei, zu schützen. Jedenfalls haben fast zwei Jahrhunderte emsiger wissenschaftlicher Kleinstarbeit keinen Autoren wie Kyot aufgetrieben. Der riesige Unterschied in Länge und auch Tiefe zwischen Chrétien und Wolfram scheint allein an der immensen künstlichen Kreativität des Deutschen zu liegen.

Es wird wohl auch eine Facette dieser Erzähl- und Überlebensstrategie sein, dass der Sprecher im Gedicht behauptet, er sei Analphabet5 und habe die Fabel von Kyot als mündliche Überlieferung erhalten. Viel wurde zu dieser Behauptung hin-und-her geredet und geschrieben. Es stimmt schon, dass sehr lange und sehr komplizierte Kunstwerke rein mündlich überliefert werden können und schon oft wurden, doch es gibt viele Belege im Werk selber, dass Wolfram es als Manuskript geschrieben haben muss.6

Einer der einleuchtendsten und wichtigsten Unterschiede zwischen Chrétians Fabel und Wolframs Parzivâl ist die Tatsache, dass Wolfram nicht mit Parzivâl anfängt, sondern weit zurückholend die Abstammung Parzivâls behandelt. Es stimmt schon, dass im kurzen Prolog der nochnichtgeborene Parzivâl gemeint ist, denn – ohne ihn beim Namen zu nennen – verspricht das komplizierte Gedicht (das tumben liuten – törichten Menschen – gar zu flink sei) zu zeigen, wie mannes manheit, woran beides, die lichte Farbe des Himmels und die schwarzfarbene Finsternis der Hölle Anteil haben, dank grôzen truiwen, wîplîchez wîbes reht – rechtem fraulichen Wesen – nach und nach innere Festigkeit gewinnt.

Die Abstammung Parzivâls deutet auf die universelle, allgemeingültige Wichtigkeit der Parzivâlfigur, einer Art Jedermann, was wir demnächst auch näher beschreiben werden. Sie fängt vorerst mit Parzivâls Grossvater König Gandîn an, bei dessen Tode im ritterlichen Kampf sein ältester Sohn Galôes das ganze Königreich Anschevîn (auch Anjou genannt) erbt, denn es herrscht in diesem Teil Deutschlands das Erstgeburtsrecht, französisches Erbrecht genannt, die Primogenitur. Der jüngere Bruder Gahmuret, Parzivâls Vater, geht leer aus.

Und obwohl sein grosszügiger älterer Bruder bereit ist, mit ihm Reichtum und das Adelsprädikat Anschevîn zu teilen, dankt Gahmuret, weil er einen starken Trieb nach âventiure (ritterlicher Streifzug mit unbekanntem Ausgang, oft mit Zauber bzw. Übernatürlichem verbunden) verspürt.

Er sagt seinem Bruder und seiner verwitweten Mutter Schôette Lebewohl und reist in den Nahen Osten. Dort verdient der charmante und tugendhafte Europäer im Dienste vom bâruc (Kalifen) zu Bagdad einen Ruf als grosser und gallanter Ritter. Schließlich segelt er nach Afrika, in das Land Zazamanc, um die schwarzafrikanische Königin Belacâne zu befreien, deren Hauptstadt Pâtelamunt von zwei Armeen belagert wird, einem Heer weißer Christen und einem Heer schwarzer Mohren.

Nach seinem Sieg über beide Heere heiratet Gahmuret die dankbare Belacâne. Doch bevor ihr Kind zur Welt kommt, treibt ihn seine unersättliche Kriegslust von ihr weg. Als ihr Sohn, Feirefîz Anschevîn, geboren wird, soll er auf der Haut schwarze und weiße Markierungen gehabt haben, die ihn in etwa wie eine Elster bzw. eine Manuskriptseite aussehen lassen.

Gahmuret, dessen Rüstung ironischerweise ein Ankermotiv führt – denn er kann sich nirgends festankern – fährt nach Europa zurück, wo er erfährt, dass die Königin von Wâleis in der Stadt Kanvoleis ein Turnier ausgerufen hatte. Diese jungfräuliche Königin, Herzeloyde, bietet dem siegreichen Ritter ihre Hand und zwei Königreiche an. Natürlich siegt Gahmuret. Und weil er “nur” mit einer Heidin verheiratet war, sieht man seine Ehe mit Belacâne nicht als Hindernis an, sich dies Mal mit einer Christin zu vermählen. Aber genau wie in Zazamanc bleibt Gahmuret bei Herzeloyde nur lang genug, um sie schwanger zu verlassen, als ihn der bâruc rufen lässt, dem schon wieder eine Invasion droht.

Eines Mittags, als die verlassene Königin einen unruhigen Mittagsschlaf hält, träumt Herzeloyde von einem fallenden Stern, der sie in die Luft jagt, wo sie von starken Blitzschlägen getroffen wird, von heftigem Donner begleitet. Weiter reißt ihr ein Vogel Greif die rechte Hand weg. Dann träumt sie davon, dass sie einen Drachen stillt, der ihr den Mutterleib zerreißt und an ihren Brüsten saugt, bevor er auf immer von ihr wegfliegt.

Offenkundig deutet dieser furchtbare Traum auf den Tod Gahmurets, ihrer rechten Hand, und auf die Geburt Parzivâls hin, denn sein späteres Malträtieren seiner armen Mutter wird genau durch diesen mutterleibzerreißenden Drachen symbolisiert.

Herzeloyde erwacht aus ihrem entsetzlichen Traum weil Boten gekommen sind, ihr mitzuteilen, dass Gahmuret im Kampf gefallen sei, nachdem ein Verrat seinen diamantenen Helm so weich wie ein Schwamm7 werden ließ, und das Speer eines Gegners seinen Kopf durchbohrte.

Nur die Tatsache, dass sie Gahmurets Sohn im Leibe trägt, bewahrt sie vor dem Selbstmord aus Verzweiflung, denn sie erwägt, dass dieses bedeuten würde, Gahmuret ein zweites Mal zu töten. Zwei Wochen nachdem seine Mutter die Nachricht von dem Tode seines Vaters Gahmuret erhielt, wird Parzivâl geboren.

Ganz langsam beginnen wir zu begreifen, warum Wolfram seine Fabel mit der Genealogie Parzivâls beginnt und den Grossteil der ersten zwei Bücher damit verbringt, besonders mit der Aufzählung der beiden verhängnisvollen Makel seines Vaters: Herzeloyde fürchtet, und zwar zu Recht, dass der Junge Parzivâl in den Fussstapfen seines Vaters wandeln könnte, d.h. dass jener die väterliche Veranlagung geerbt haben könnte, Frauen zu verlassen, um Kämpfe zu führen. Es scheint sogar, dass diese beiden Mängel, diese Neigungen, nicht nur vom Vater stammen könnten, sondern auch vom Grossvater, der selber im Turnier gestorben war. Es scheint sogar, dass diese Charaktereigenschaften väterlicherseits von seinem Ur- Ur- Urgrossvater Mazadân auf Parzivâl überliefert worden seien.

Mazadân, ehrwürdiger Erbstammesoberhaupt, der auch König Artus’ Urgrossvater gewesen sein soll, trägt einen keltischen Namen, der von mindestens einem geachteten Gelehrten, Arthur Groos, für eine Variante von mâc Adam, “Sohn Adams,”8 gehalten wird. So gesehen, wird Parzivâl quasi väterlicherseits vom alten Stammesvater Adam über seinen eigenen Vater Gahmuret die Neigung zu flüchtigen Beziehungen zu Frauen einerseits und zu kämpfen und zu sonstiger Gewalt andererseits. In Kürze werden wir auch leider sehen müssen, dass Parzivâl sogar die Neigung geerbt haben muss, den Brudermord zu begehen, die kennzeichnende Erbschaft von Kain, auch einem Sohn Adams, der seinen eigenen Bruder Abel erschlug.

Wie wir auch bald detaillierter feststellen werden, und wie es im Prolog vorausschauend dargestellt wurde, ist Parzivâl eine Art Jedermann, ein universeller Sohn Adams, der in Sünde, in Dunkelheit – der Höllenfarbe – dahinschmachtet und Erlösung benötigt. Aber mütterlicherseits hatte er ganz andere Möglichkeiten und Potenziale geerbt, als wir zu gegebener Zeit auch erfahren werden, wenn wir auf ihre Familiengeschichte stossen, denn Parzivâls Seele ist ebenfalls von Glanz und Helligkeit – der Farbe des Himmels – durchfärbt und durchtränkt.

Wir wollen aber unserer Erzählung nicht zu weit vorauseilen, denn Parzivâl ist immer noch ein neugeborener Säugling, den seine Mutter und die anderen Damen genau untersuchen:

dô diu küngîn sich versan
und ir kindel wider ze ir gewan,
si und ander vrouwen
begunden betalle schouwen
zwischen den beinen sîn visellîn.
er muose vil getriutet sîn,
do er hete manlîchiu lit. [112. 21-27]9

{Nachdem die Königin sich erholt und ihr Kindlein wieder zu sich genommen hatte, beschaute sie mit ihren Hofdamen sein Gliedlein zwischen den Beinen. Immer wieder wurde er geherzt und geliebkost, da er so recht wie ein Mann gebaut war.}

In gegebener Zeit werden wir sehen, dass das Interesse an Parzivâls Zeugungsorgan – alles andere als überflüssige, grundlose Weiberleichtsinnigkeit – vielmehr ein Zeichen seines abrahamitischen Potenzials ist, eine Verheißung ultimativer Erlösung von seiner adamischen Erb-Belastung.

Indessen nimmt seine Mutter Herzeloyde am Anfang von Buch III ihr Kleinkind und ihr Gefolge in den Wald, wo man in einer Lichtung namens Soltâne eine Bedarfdeckungslandwirtschaft unternimmt. Herzeloyde (ihr Name scheint übrigens eine Zusammensetzung von Herze- und -Leide zu sein, doch der Gelehrte Bodo Mergell10 glaubte, hinter -Leide auch ein Reimecho vröide, Freude, ausgemacht zu haben) ist unbeirrt entschlossen, Parzivâl vor den ritterlichen Gepflogenheiten seines Vaters zu schützen.
Hier in der Wildnis, weit weg vom Hof, von ritterlichem Benehmen und besonders von bewaffneten Rittern weit entfernt, verbietet sie ihrem Gefolge ausdrücklich, das Wort Ritter bzw. Rittertum überhaupt in Gegenwart des Knaben in den Mund zu nehmen. Parzivâl lernt sogar seinen eigenen Namen nicht einmal, denn seine Mutter redet ihn bloss mit “bon fîz, scher fîz, bêâ fîz” an. [113. 4] (Neufranzösisch: bon fils, cher fils, beau fils = guter Junge, lieber Junge, schöner Junge.}

Parzivâls angeborene Urinstinkte als Krieger und Killer sind trotzdem stark. Auch ohne Lehrer schnitzt er sich Bogen und Pfeile zurecht, mit denen er Vögel erlegt. Doch der Vogelsang bezaubert ihn; sein Busen schwillt an und er vergießt Tränen. Wenn er einen solch schönen Sänger getötet hatte, raufte er sich vor Verzweiflung und Leid die Haare aus, was zeigt, dass in seiner gespaltenen Seele die sanftere mütterliche Erbschaft noch wirksam ist.

Allerdings vergisst seine Mutter, die Parzivâl abgöttisch liebt, auch vorübergehend ihre eigene sanfte Natur, denn sie versucht ihn vor seinem Schmerz zu schützen, indem sie ihren Ackersleuten und Knechten befiehlt, alle Vögel der Gegend zu fangen und zu töten. Parzival wehrt sich dagegen und fragt seine Mutter, was die Vogel wohl verbrochen hätten. Man sollte sie in Frieden lassen. Daraufhin ist sie berührt und küsst ihn, den sie zu nachsichtig behandelt hatte, und sagt, ja, “Warum nur breche ich das Gebot des höchsten Gottes? Sollen die Vögel um meinetwillen auf ihren frohen Gesang verzichten?”

Bei der ersten Erwähnung des Wortes Gott in seiner Gegenwart fragt Parzivâl: “ôwê muoter, waz ist got?” [119. 17] {Ei, Mutter, was ist das, Gott?} Diese gute aber übervorsichtige Dame, die Parzivâl eher zu wenig als zu viel belehrt hatte, sagt ihm, Gott habe sich entschlossen, Menschengestalt anzunehmen und sei strahlender noch als der helle Tag. Sie wiederholt quasi die Farbenlehre vom Prolog: Gott sei hellfarbiges Licht, das Böse sei Dunkelheit.

Es passiert etwas später dann, als er älter wird und mit seinem gabylôt, einer Art Wurfspieß auf der Jagd ist – er erlegt ungeheur viel Wild und schleppt auch den grössten Hirsch auf seinem Rücken nach Hause – dass ihm drei Ritter in glänzender Rüstung über den Weg galoppieren. (Diese Ritter jagen zwei andere, unwürdige, Ritter, welche eine junge Dame geraubt haben sollen.) Parzivâl hält sie alle drei für Gott und wirft sich auf die Knie vor ihnen. Dann stösst ein vierter Ritter dazu, der Leiter der Truppe, Karnahkarnanz, Graf von Ulterlec. Diese strahlende Gestalt in seinem glänzenden Harnisch sah dann Parzivâl erst recht aus wie ein Gott.

Karnahkarnanz sagt Parzivâl er sei nicht Gott, aber er diene Gott nur; er und die anderen drei seien Ritter. Parzivâl will natürlich wissen, was das ist und wer die Ritterwürde verleiht. Karnahkarnanz erwidert, das tut König Artûs. Jetzt betrachten ihn die Ritter etwas genauer, und Karnahkarnanz stellt fest, dass Parzivâl aussieht, als wäre er ritterlicher Herkunft. Der Erzähler fügt bei, dass es seit Adams Zeit keinen schöneren Mann gegeben habe. Also schlägt Karnahkarnanz vor, Parzival sollte zu Artûs gehen und sich selber zu einem Ritter machen lassen.

Parzivâl läuft schnurstracks zu seiner Mutter und erzählt ihr von den Rittern, woraufhin sie in eine Ohnmacht fällt. Nachdem sie zu sich kommt – Parzivâl bittet sie unaufhörlich um ein Pferd, damit er zu Artûs reiten kann – denkt sie sich eine kleine List aus. Es wäre hoffnungslos, ihm ein Pferd vorzuenthalten – er könnte ja zu Fuss gehen – also gibt sie ihm eine Schindmähre, die so heruntergekommen und gebrechlich ist, dass die Leute ihn garantiert auslachen und nach Hause schicken werden. Zu dem wackligen Gaul gibt sie ihm auch grobe Narrenkleider auf den Weg.

Bevor er aufbricht, gibt sie ihm auch einige Ratschläge mit, aus denen man teilweise die vernünftigen Absichten schließen kann: meide dunkle Furten (wo das Wasser also zu tief wäre) und suche seichte und durchsichtig klare; zeige dich höflich und grüße alle Menschen; hält dich ein grauer (also: weiser) Mann zu gutem Benehmen an, dann folge willig seiner Lehre. Kannst du von einer edlen Frau Ring und freundlichen Gruss erringen, so greife zu...schließe sie fest in die Arme (vermutlich: verlass eine gute Frau nicht auf Lust und Laune wie dein Vater es immer tat!).

Weil ihre Pläne ihn vor Hof und Rittertum zu schützen nun sowieso am Boden zerstört lagen, entschließt sie sich, ihm mitzuteilen, dass ihm die beiden Reiche, Wâleis und Norgâls, die er von seinem Vater hätte erben sollen, von einem gewissen Lähelîn entrissen worden seien, wobei einer von Parzivâls Fürsten, Turkentâls, getötet worden sei. Parzivâls sonstige Untertanen seien entweder erschlagen oder in Gefangenschaft geführt worden. Parzivâl verspricht, diesem Lähelîn das heimzuzahlen.

Als Parzivâl am andern Morgen davon reitet, fällt seine Mutter Herzeloyde tot zu Boden, ihr Herz von Leide zerrissen. Sie war, so will es die Erzählung, auf ihre noch nicht geoffenbarte Erbschaft und Gottheitspotenzial vordeutend: “ein wurzel der güete und ein stam der diemüete” {Eine Wurzel wahrer Güte, ein Baumstamm weiblicher Demut}: “ôwê daz wir nu niht enhân ihr sippe unz an den eilften spân!” [128. 27-30] {Ach, dass wir heutzutage ihresgleichen nicht mehr haben – nicht einmal im elften Verwandtschaftsgrad!}

Parzivâl passt genau in die Rolle des “tumber knappe”. Sein Aussehen und sein Benehmen machen ihn sogar zu dem Prototyp an sich eines solchen närrischen ahnungslosen jungen Mannes, der allen Protagonisten von späteren Bildungsromanen und -filmen Pate stehen und Vorbild sein wird, von Simplicissimus und Wilhelm Meister in Deutschland über David Copperfield zu Forrest Gump. Es sind alles junge Narren, denen aber eine immanente Güte innewohnt, welche nach und nach Weisheit lernen und sich vervollkommnen bis sich am Ende ihres Wandelganges ihre wahre, edle Natur in ihrer vollen Grösse hat entfalten können.

In seinen lächerlichen Kleidern auf seinem lächerlichen Klepper sitzend, verbringt Parzivâl nun den ganzen ersten Tag von seiner Mutter weg einem kleinen Bächlein entlang zu reiten, weil es ihm von all den überhängenden Blumen und Gräsern dunkel erschien – ein Hahn hätte es durchwaten können – und er dem Rat seiner Mutter genauestens folgen wollte. Erst am anderen Morgen findet er eine klare Furt und reitet durch.

Einen noch ernsthafteren Mangel an Urteilsvermögen legt der junge Narr auf der anderen Seite des Baches an den Tag, als er ein kostbares Zelt dort auf der Wiese erblickt. Im Zelt findet er eine wunderschöne Dame schlafend vor, die Herzogin Jeschûte. Seiner Mutter Worte eingedenk springt er auf ihr Bett, umarmt sie – ihre lauten Klagen unbeachtend – küsst sie und reißt ihr einen Ring vom Finger und obendrein eine Brosche vom Hemd.

Dann verletzt er noch mindestens zwei weitere ritterliche Anstandsregel indem er von ihrem gedeckten Tisch die Speise und den Wein verschlingt bevor er sie ein zweites Mal küsst und dann ganz “unhöflich,” d.h. ohne einen Abschiedsgruss der Dame abzuwarten, davon zockelt. Er hört gar nicht zu als sie ihn anfleht, ihr den Ring und die Brosche zurückzugeben, denn ihr Mann würde bald zurückkommen und überaus zornig sein.

Bald darauf tritt ihr Mann, der Herzog Orilus de Lalander, in das Zelt ein. Er hatte schon argwöhnisch draußen am Tau im Grase bemerkt, dass einer just davon geritten sein muss. In der Tat scheint er ein stolzer, eifersüchtiger, mörderischer Hornochse zu sein, denn in seiner Prahltirade gegen seine sofort für schuldig gehaltene Frau brüstet er sich damit, im Turnier viele Ritter umgebracht zu haben – auch einen gerade vorhin – darunter Galôes, Sohn König Gandîns, jenen grosszügigen älteren Bruder von Parzivâls Vater Gahmuret. Die Ritter von König Artûs hassten ihn allesamt, weil er soviele von ihnen geschlagen habe. Ja, prahlt er weiter, er könne alle im Turnier besiegen, sogar den legendären Mann, “dem höchster Ruhmespreis gebührt” (dessen Identität aber nur dann – so die Saga – bekannt gegeben wird, wenn Cunnewâre, die Schwester von Orilus, am Hofe von König Artûs ihn sieht und dann lacht, denn bisher durfte sie gar nicht einmal lächeln): “wan koem mir doch der selbe man!” [135. 19] {Wenn dieser Mann mir doch begegnete!} schreit er aus, kampfbereit.

Ohne viel Zaudern schleppt er Jeschûte aus dem Zelt dem unbekannten Manne nach, den er für ihren Liebhaber hält, weil er ihn im Turnier bekämpfen und besiegen will, selbst wenn dieser wie ein wilder Drache Feuer aus den Nüstern bliese: “ich bestüende in doch durch âventiur, ob sîn âtem gaebe viur, als eines wilden trachen.” [137.17-19] Die grosse Ironie der Sache besteht darin, dass Pârzival nicht nur der sagenhafte Mann ist, “dem höchster Ruhmespreis gebührt” er ist auch der Mann, den Orilus fälschlicherweise für den Liebhaber seiner Frau hält. Zu gegebener Zeit wird Pârzival auch Orilus im Kampfe bezwingen um ihn dazu zu zwingen, sich mit seiner langmütig leidenen Frau Jeschûte zu versöhnen.

Indessen entscheidet sich Orilus – statt einer Tracht Prügel, die sie seineserachtens verdient hätte – für eine noch grausamere langfristige psychologische Strafe für Jeschûte: Er wird fortan nicht mehr ihr Bett mit ihr teilen, nicht mit ihr essen. Er zerschlägt ihren vornehmen Sattel und weigert sich, ihrem Pferd Futter und Pflege zu geben. Er kauft ihr künftig keine neuen Kleider mehr. Übers Jahr, wenn das unglückliche Ehepaar endlich Parzivâl über den Weg läuft, macht die arme Jeschûte mit ihrem verhungerten Gaul, ihrem kaputten Sattel und ihren zerschlissenen Kleidern einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck.

Parzivâl reitet für seinen Teil quietschvergnügt weiter, nicht wissend, dass man ihn jagt. Er grüsst jeden, dem er begegnet, dem Rate seiner Mutter zufolge. Vor einem Felsen stösst er auf noch eine unglückliche Frau, deren Verlobter, Fürst Schîânatulander, tot im ihrem Schosse liegt. Dieser ist der Mann, den früher am selben Tage der Prahlhans Orilus in einer Tjost umgebracht hat. Ihr Gram wird durch ihre Reue vermehrt, denn diese Dame hatte, nur um Schîânatulander zu reizen, ihn kokett aufgefordert, ihr von einem vorbeilaufenden Hund eine reiche mit Edelsteinen beschmückte Hundeleine bzw. ein Hundehalsband zu holen, was zu dem tötlichen Kampf geführt haben soll.

Die Handlung verdichtet sich noch: als diese junge Dame ihn nach seinem Namen fragt, antwortet ihr Parzivâl: “bon fîz, scher fîz, bêâ fîz.” An diesen Benennungen und an seinem schönen Aussehen erkennt diese Frau – die sich selber Sigûne nennt – in Parzivâl ihren Vetter, den Sohn ihrer Tante Herzeloyde. Dieses veschweigt sie ihm allerdings, sie sagt ihm lediglich, er heiße eigentlich Parzivâl und erklärt ihm, dass sein Name (vermutlich über das Französische perce à val! = durchstechen) “Rechte enmitten durch” [140.17] {Mittenhindurch} bedeute. Dies beziehe sich auch auf seine Mutter: weil Herzeloyde “so treu war, pflügte die grosse Liebe eine Furche mitten durch ihr Herz” als Gahmuret sie allein ließ. (Parzivâl erfährt erst später von seinem eigenen darauffolgenden – totlichen! – Durchpflügen des Herzens seiner Mutter.)

Sigûne erzählt ihm noch, dass Parzivâl König von Norgâls sei, und dass ihr toter Geliebter Fürst Schîânatulander Parzivâls Reich verteidigen wollte, als er von Orilus erschlagen wurde (der auch Parzivâls Onkel Galôes auf dem Gewissen hat!). Darauf erpicht, dieses Unrecht zu rächen, und um die Sache mit Lähelîn zu erledigen, der weitere zwei seiner Reiche an sich gerissen hatte – und welcher übrigens ein Bruder von Orilus ist! – bittet Parzivâl Sigûne, ihm den Weg zu den Bösewichtern zu weisen. Um den Narren aber vor dem sicheren Tod zu bewahren, schickt sie ihn in die falsche Richtung.

Parzivâl übernachtet bei einem hartherzigen, habgierigen Fischer, der ihn für Kost und Logis unverschämt ausnimmt – Parzivâl muss die kostbare Brosche der Herzogin Jeschûte dafür geben – aber wohl aus Gewissensbissen willigt der Gastgeber am andern Morgen ein, Parzivâl bis an den Hof von König Artûs zu begleiten um ihm den Weg zu zeigen. Als sie aus der Ferne die Stadt Nantes erblicken, weigert sich der Grobian aus einem Sinn für seine eigene Unwürdigkeit, Parzivâl näher an den vornehmen Hof zu begleiten. Parzivâl muss allein dahin.

Über eine Wiese voll Blumen auf seinem Wege in die Stadt reitend, begegnet Parzivâl einem Ritter, der ganz in knallrot geharnischt und gekleidet ist. Das Rot rötete einem sogar die Augen, wenn man ihn ansah. Sein Haar, sein Streitross, sein Schwert, alles war gleich grellrot. Dieser Rote Ritter ist Ithêr von Gaheviez, König von Kukûmberland.11 Er ist ein Vetter von König Artûs, der Sohn von Artûs’ Tante mütterlicherseits, und wurde von Artûs’ Vater Utepandragûn erzogen. Er grüsst Parzivâl herzlich und lobt mit einer Art Wahrsagung seine Schönheit und Vollkommenheit, nämlich: dass Parzivâl viel Frauenglück und viel Frauenqual in die Welt bringen wird.

Als er erfährt, dass Parzivâl zu Artûs unterwegs ist, bittet er ihn um ein Gefallen. Weil er Erbrechte auf das Land Bertâne (Bretagne) in Anspruch nimmt, ist er neulich zur Tafelrunde geritten und hat vom Sattel aus dem König einen goldenen Becher vom Tisch erhascht – als Symbol dafür, dass ihm das Reich zusteht – aber aus Versehen den Wein darin auf das Kleid der Königin Gynovêr vergossen. Parzivâl soll der Königin sagen, dass das unbeabsichtigt gewesen sei. Er soll weiter dem König berichten, dass der Rote Ritter sich die Hände nicht habe schmutzig machen wollen und darum kein angesengtes Strohbündel umgekehrt habe – so ein brennendes Strohbündel besagte damals die Inbesitznahme von herrenlosem Land – und dass er nicht weit weggeritten sei und hier draußen auf den König und seine Ritter warte. Wenn man den goldenen Becher zurückhaben wolle, solle man zum Kampfe herausrücken.

Parzivâl willigt in diese Botschaften ein und reitet weiter. Ein knappe {Edelknabe} namens Iwânet nimmt sich seiner an und begleitet ihn zum König. Parzivâl bittet, sofort zum Ritter gemacht zu werden. Der schöne Parzivâl gefällt dem König wohl, aber er bittet Parzivâl bis morgen zu warten, damit er ihn gebührlich ausrüsten kann. Parzivâl will aber keine Geschenke annehmen. Ungeduldig bittet er um Erlaubnis, dem Roten Ritter heute noch die Rüstung wegnehmen zu dürfen.

Artûs zögert, diesem Plan zuzustimmen, weil er den sicheren Tod des Jungen befürchtet. Keye, der schlaue Truchseß oder Seneschal – in den Artûslegenden wegen seiner Hinterhältigkeit und List anrüchig – sagt dagegen, der König soll den Knaben ruhig zu Ithêr schicken: ihn schere das Leben der beiden wenig. Man müsse Hunde aufs Spiel setzen, wenn man den Eber jagen wolle. Nur stockend und ungern willigt Artûs in diesen Vorschlag ein, denn es geht ihm doch sehr gegen den Strich.

Als sich Parzivâl auf den Weg macht, muss er an einer Art niedrig gelegenen Galerie vorbei, wo die Königin mit Rittern und Hofdamen sass, darunter die stolze, schöne Frau Cunnewâre de Lâlant, Schwester der beiden Feinde Parzivâls, Orilus de Lalander und Lähelîn. Sie war es, die im Leben noch nie gelacht und nie lachen wird, es sei denn, sie begegne dem Mann “dem höchster Ruhmespreis gebührt.” Als der Narr Parzivâl vorbeireitet bricht sie plötzlich in orakelhaftes Lachen aus. Keye ist bitterböse über diese scheinbare Brüskierung aller würdigen Ritter, über die sie nie gelacht hatte. Er packt sie bei ihren blonden Locken und schlägt mit einer Rute solange auf sie ein, bis die Rute zerbricht.

Dann steht noch ein Orakel auf, um Parzivâls zukünftige Grösse zu verkünden. Der alte Antanor, der nie im Leben ein Wort gesprochen hatte und darum für einen Narren gehalten wurde, beginnt zu sprechen, denn sein Sprechen ist mit Cunnewares Lachen verbunden. Jetzt, wo ihr Lachen ihm die Zunge gelöst hatte, sagt er Kaye voraus, dass Parzivâl, jener unscheinbare Knabe, um dessentwillen Kaye Cunneware traktiert hat, ihm das eines Tages zu seinem Verdruss noch heimzahlen werde, darauf könne er sich verlassen.Wegen seiner Verkündigung bekommt auch Antanor von Kaye eine Tracht Prügel.

Parzivâl, tiefbetrübter Zeuge dieser unerhört unhöflichen Handlungsweise, welche seinetwegen verübt wurde, greift nach seinem gabylôt, dem Jagdspeer, doch es gibt so ein Gedränge um die Königin da auf der Galerie, dass er auf den rächenden Wurf verzichten muss. Er muss weiterreiten, aus der Stadt hinaus bis auf die Blumenwiese zu Ithêr dem Roten Ritter.

Parzivâl meldet diesem, dass zwar kein Mensch am Hof mit ihm kämpfen wollte, doch habe der König ihm, Parzivâl, die Erlaubnis gegeben, Ithêrs Rüstung und sein Reittier zu nehmen. Als Ithêr sich weigert, greift Parzivâl nach dem Zaum von Ithêrs Ross, indem er sagt: “du maht wol wesen Lähelîn, von dem mir claget diu muoter mîn” [154. 25-26] {Du bist wohl gar Lähelin, über den sich meine Mutter beklagt hat!}

“Da kehrte der Ritter die Lanze um und stieß mit dem stumpfen Ende so wuchtig zu, dass der Knabe samt seiner Mähre auf die Blumen purzelte.” [154. 27-30] Der Rote Ritter hatte so hart zugeschlagen, dass aus Parzivâls Kopfhaut das Blut hervorspritzt. Parzivâl, nun selber wütend aufgebracht, greift nach seinem gabylôt und schleudert dem Ritter einen spitzen Bolzen durch den Sehschlitz. Das Wurfgeschoss bohrt durch Ithêrs Augenhöhle und duchstösst noch seinen Nacken. Furchtbar ist daran nicht nur, dass ein so edler Ritter kaltblütig ermordet wird, sondern dass er wie ein Stück Vieh durch eine so unritterliche Bauernwaffe einfach abgeschlachtet wird.

Und dann betreibt der tumber knappe Parzivâl sogar eine Art Leichenfledderei: er wälzt den Toten hin und her und will ihm die Rüstung abnehmen; allein er hat keine Ahnung, wie eine Rüstung zusammengehalten wird; er kann mit den verschiedenen Schlössern und Schnappern und Schnallen nicht umgehen.

Unterdessen wiehern beide Pferde so laut und anhaltend, dass der Edelknabe Iwânet, der vor der Stadt auf Parzivâl gewartet hatte, sie hört und hinzukommt und Parzivâl zeigt, wie man dem Toten die Rüstung abnimmt. Parzivâl besteht darauf, seine töpelhafte Kleidung unter der neuen Rüstung anzubehalten und Iwânet fügt sich darin, obwohl ihm sowas unverständlich ist. Als aber Parzivâl noch seinen gabylôt in die Hand nehmen will, weist ihn Iwânet zurück: einem Ritter sei eine solch plumpe Waffe nicht erlaubt. Stattdessen zeigt er ihm Schild, Schwert und Lanze und bringt ihm bei, wie man sie handhabt.

Noch ehe er als der ritter rôt davon reitet – er hat auch Ithêrs Identität und Beinamen gestohlen – bittet Parzivâl den Pagen Iwânet, Artûs den goldenen Becher zurückzubringen und ihm von der Injurie zu erzählen, die Kaye den beiden Orakeln um Parzivâls Willen zugefügt hatte. Iwânet deckt den Leichnam mit Blumen zu und drückt den gabylôt dem toten Ritter zu Häupten als Kreuz in den Boden. Dann reitet er nach Nantes zurück um die Hiobsbotschaft zu verbreiten, woraufhin man unter viel Trauern und Wehklagen den Leichnahm in die Stadt schafft, denn, obwohl er dem König ein Herausforderer war, lag der Rote Ritter, dessen Leben frei von Verrat war, doch allen, besonders der Königin Gynovêr, am Herzen.

Unterdessen gallopiert Parzivâl auf seinem prächtigen Ross durch die Gegend, denn er hatte noch nicht gelernt, wie man ein Pferd zügelt. Am Abend, weit mehr als eine normale Tagesreise von Nantes entfernt, kommt er an einem herrlichen Schloss an, das Gurnemanz de Grâharz gehört. Dessen graue Haare veranlassen Parzivâl, den Rat seiner Mutter bedenkend, ihn um Anweisung zu bitten. Es dauert aber eine Weile, bis Gurnemanz und sein Gefolge Parzivâl überreden können, vom erschöpften Ross abzusteigen und sich die Rüstung abnehmen und seine Wunde behandeln zu lassen. Als man ihm ein Essen anbietet, verschlingt er alle Speisen weit und breit, weil er ja beim Fischer nicht gefrühstückt hatte und den ganzen Tag hindurch gar nichts zu sich genommen hat.

Nachdem er sich ausgeschlafen hat, steigt Parzivâl in ein herrliches Bad, das seine Gastgeber ihm bereitet hatten. Eine Anzahl wunderschöner, prachtvoll gekleideter Jungfrauen erscheint, die Blicke sittsam niedergeschlagen, um mit ihren zarten weißen Händen ihn zu waschen und seine Quetschungen wegzustreichen. Nur, als das Badetuch gebracht wird, schämt er sich, vor ihnen aufzustehen, woraufhin die Mädchen das Zimmer verlassen, obwohl sie gern geblieben wären, um zu sehen “ob im dort unde iht waere geschehen” [167. 28] {ob ihm weiter unten etwas passiert war}, ein weiterer harmloser Hinweis auf seine Zeugungsorgane und deren mögliche Verwundung, welche in Parzivâl ein abrahamisches Symbol von zentraler Bedeutung darstellt, dessen Bedeutung uns in Kürze klarer werden wird.

Gurnemanz ist ein fabelhafter Lehrmeister, der dem törichten Parzivâl viel Weisheit mitteilt, darunter, dass er nicht kindisch plappern und ungehörige Fragen stellen sollte. Auch bringt er ihm ritterliches Können bei, worin Parzivâl sich sofort hervortut. In seiner ersten Übungstjost hebt er spielend leicht fünf Ritter hintereinander aus dem Sattel. Weil er seine drei Söhne in verschiedenen Kämpfen verloren hatte, möchte Gurnemanz diesen außergewöhnlichen jungen Mann seiner Tochter Lîâze vermählen, doch nach zwei Unterrichtswochen erklärt ihm Parzivâl, dass er noch nicht genügend ritterlichen Ruhm erworben hätte, um ihrer würdig zu sein: er will zurückkommen, wenn es einmal soweit ist. Gurnemanz spürt, dass er nicht wiederkommen wird und empfindet seine Abreise so schmerzhaft, als wäre ihm ein vierter Sohn gestorben.

Gurnemanz hatte seinen ersten Sohn, Schentaflûrs, im Dienste seiner Nichte verloren, einer Königin namens Condwîr âmûrs12 – manchmal ist die Schreibweise: Cundwîr âmûrs – deren Hauptstadt von einem unerwünschten Bewerber um die Gunst der Königin, König Clâmidê von Brandigân mit seinem Seneschal Kingrûne, schon lange belagert wird. Es trifft sich, dass Parzivâl, am Anfang von Buch IV, sobald er ziellos von Gurnemanz weggeht und die wilden, hohen Berge des Königreichs Brôbarz durchreitet, endlich einem Wasserlauf ins Tal und ans Meer folgt, von seinem Ross zur Stadt Pelrapeire geführt, direkt in die Belagerung der Königin Condwîr âmûrs, die – statt Lîâze – seine Frau werden sollte.

Er steigt ab und zieht sein zitterndes Streitross über eine marode, schwankende Brücke über einem Abgrund in die stark verteidigte Stadt hinein – die Königin selber macht ihm das Tor auf, nachdem sie festgestellt hatte, dass er zu helfen gekommen war. Er merkt, dass die Bevölkerung kurz vor dem Verhungern ist. Zu der Königin selbst sagt er vorerst kein Wort, da er sich an den Rat von Gurnemanz erinnert. Statt beleidigt zu werden, spricht sie dann selber das erste Wort. Daraufhin erfährt sie, dass Parzivâl von Gurnemanz belehrt wurde und am selben Tage von ihrem Onkel geritten sei – normalerweise dauert die Reise auch für den schnellsten Reiter mindestens zwei Tage. Sie sagt ihm, sein Dienst an ihr sei auch ein Dienst an Gurnemanz.

Die Hungersnot wird vorläufig gemildert, als zwei weitere Onkel der Königin: Herzog Kyôt von Katelangen (Katalonien), Vater der Sigûne, Parzivâls Kusine (deren toter Freier Schîânatulander ihr vorhin im Schoss lag) und Herzog Manpfilyôt es schaffen, einen kleinen Vorrat an Nahrungsmitteln aus ihren nahegelegenen Jadghütten an der Besatzung vorbei in die Stadt hineinzuschmuggeln.

Nachdem die Speise unter der ganzen Bevölkerung der Stadt verteilt wird, bleibt für Parzivâl und die Königin recht wenig übrig, doch sie essen ein paar Brosamen. Parzivâl legt sich schlafen, aber nach einer Weile schlüpft Condwîr âmûrs in die Kemenate, wo Parzivâl ruht. In ihrer Kummer und Not sucht sie Beistand, nicht Liebe. Sie kniet sich auf dem Teppich vor dem Bett hin und vergießt soviele Tränen über Parzivâls Haupt, dass er davon wach wird.

Er sagt, man soll nur vor Gott knien, sie soll sich setzen, aber es gibt eben im Raum keine Möbel außer seinem Bett. Sie lässt ihn versprechen, “daz ir mit mir ringet niht” [194. 1] {dass ihr nicht begehrlich mit mir ringt} und legt sich dann zu ihm ins Bett. Da ergießt sie ihren ganzen Kummer aus: ihr Vater, König Tampentiere sei gestorben, sie als Weisenkind hinterlassend. Sie habe das Königtum allein regieren müssen, das jetzt wegen der Belagerung die Hälfte der Bevölkerung, wenn nicht noch mehr, eingebüsst habe. Sie sagt Parzivâl sie wolle lieber sterben, sich in den Wassergraben stürzen, als Clamidê zu ehelichen, der ja ihren Vetter Schentaflûrs umgebracht habe. Parzivâl gelobt ihr, sie aus ihrer Notlage zu befreien.

Am Morgen dann, nachdem er eine Messe gehört hat, trifft Parzivâl den Seneschal Kingrûn auf dem Schlachtfeld. Von Parzivâls Schwert prasseln soviele Schläge auf seinen Helm, dass Kingrûn meint, ihn bombardiere unablässig eine Steinschleudermaschine. Er ergibt sich, aber Parzivâl will, dass er sein Unterwerfungsgelöbnis vor Gurnemanz tut. Weil Kingrûn aber dessen Sohn getötet hat, fürchtet er sich vor Gurnemanz und will lieber auf der Stelle sterben. Da sagt Parzivâl, er soll es vor der Königin Condwîr âmûrs tun. Das ist dem Seneschal auch nicht recht, denn die Bevölkerung “würde mich mit Schwertern so zerstückeln, dass von mir nur Sonnenstäubchen übrigblieben.” [198. 18-20] Also schickt ihn Parzivâl schließlich zu König Artûs; er soll sein Unterwerfungsgelöbnis vor Cunnewâre de Lâlant tun, um sie wegen ihrer Verprügelung um Parzivâls Willen zu entschädigen.

Die verwirrten Belagerer, jetzt wo ihr Held besiegt wurde, vernachlässigen ihr Handwerk und lassen nun zwei Schiffe durch ihr Netz, die mit Proviant und Kriegszubehör beladen in den Hafen gelangen. Der frühere Narr Parzivâl handelt hier als Weiser: er teilt die Speisen nur in kleinen Portionen an die Bevölkerung aus, denn sonst hätten sich die Hungrigen ihren Magen überladen. Ein paar Stunden später dürfen sie eine weitere kleine Mahlzeit zu sich nehmen.

Gestärkt können die Leute nun ihre Kriegsvorbereitungen im Ernst fortsetzen, denn König Clamidê zieht erbost mit einem zweiten Herr nach Pelrapiere, um seine Ansprüche auf die Hand und die Länder der Königin Condwîr âmûrs geltend zu machen. Die Lebensmittelschiffe hatten auch Griechisches Feuer geladen, eine flüssige Brandmasse von geheimer Komposition, mit der die Verteidiger der Stadt von oben sämtliche Belagerungsmaschinen – fahrbare Mauertürme, Wurfmaschinen, Sturmböcke und Mauerbrecher – verbrennen können. Außerdem wird ein Verteidigungssystem entwickelt, wobei man an den Mauern lange Baumstämme, die mit starken Holzspießen gespickt waren, mit Seilwinden hinablassen, um grosse Mengen Angreifer mit einem Schlag von den Mauern abzukratzen.

Condwîr âmûrs umarmt Parzivâl und sagt ihm, er sei der Einzige, den sie je heiraten würde. Also heiraten sie – sie setzt sich schon die Haube einer Ehefrau auf und sie schlafen im selben Bett – aber, um den Kontrast zu Parzivâls Vater wohl noch hervorzuheben, wird diese Ehe nicht sofort intim vollzogen, sondern Parzivâl wartet erst zwei Tage und drei Nächte, um seine und seiner Frau Keuschheit zu betonen. Die Reinheit ihrer Liebe macht es ihnen später möglich, in die Tempelgemeinschaft eingeweiht zu werden um Gralkönig und -königin zu werden, damit sie auch anderen helfen und diejenigen heilen können, welche an der geistigen Verwundung weniger reinen Verhältnisse leiden.

Indessen kommt König Clamidê mit seinem zweiten Heer an. Er führt nun beide Heere gegen Pelrapiere. Die Verteidiger der Stadt sind aber von Parzivâl wie neu beseelt, denn er zeigt nicht nur seine militärische sondern auch seine moralische Grösse: er verbietet z.B. das Abschlachten abgeworfener Ritter mit dünnen Messern, die man durch die Schlitze in der Rüstung zu stecken gelernt hatte.

Die Verteidiger der Stadt verhalten sich so tapfer, dass Clamidê zu verzweifeln beginnt. Außerdem muss er zu seinem Verdruss feststellen, dass in der Stadt Proviant in Überfluss ist. Und nachdem er erfährt, dass Condwîr âmûrs schon mit Parzivâl verheiratet ist, Platz ihm der Kragen: er fordert den neuen Ehemann der Königin zum Zweikampf auf.

Als Parzivâl auf ihn los haut, glaubt Clamidê, dass Parzivâl sein Wort gebrochen hätte und das ganze Heer würde ihn mit ihren Schleudern bewerfen. Nachdem er besiegt wird, will ihn Parzivâl zu Gurnemanz schicken, doch wir erfahren, dass Clamidê mit seinem Seneschal Kingrûn zusammen unter einer Decke steckten, als sie Schentaflûrs töteten: er hat Todesangst, vor Gurnemanz zu erscheinen. Also schickt ihn Parzivâl zu Artûs, wo auch er vor der Dame Cunnewâre de Lâlant sein Unterwerfungsgelöbnis ablegen soll, der Tracht Prügel wegen. Das tut auch der König, auf seine Ehre, was noch grösseren Ruhm dem Roten Ritter und noch grösseren Trost der Dame (und Kaye noch grösseren Verdruss) bringt.

Aber jetzt, am Anfang von Buch V, erfährt die Erzählung eine schicksalsschwere Wendung. Parzivâl hat ungefähr ein Jahr lang mitgeholfen, das Reich wiederherzustellen. Eines Tages aber bittet er seine Frau um Erlaubnis, seine Mutter kurz zu besuchen. Unterwegs, wenn es sich anbietet, will er auch mal ein paar âventiure im Namen seiner Geliebten bestreiten. Weil sie ihn übermässig liebt, kann sie ihm dieses nicht ausschlagen. Er reitet weg, doch er ist tief beunruhigt, von ihr fort zu sein.

Seine Gedanken sind so von der Königin erfüllt, dass er vergisst, seinen Ross zu lenken und er reitet viel weiter, als er je zuvor an einem Tag geritten war. Am Abend gelangt er an einen See, wo Fischer in ihrem Boot unweit vom Ufer vor Anker liegen. Einer der Fischer scheint sehr reich bekleidet zu sein, doch er scheint auch vom Gram gezeichnet. Parzivâl fragt ihn, wo er hier übernachten könne. Der Fischer sagt ihm, die Gegend sei im Umkreis von dreißig Meilen völlig Menschenleer, abgesehen von einer Burg in der Nähe. Er beschreibt Parzivâl den Weg und sagt ihm, wenn er die Burg findet – doch es sind viele Irrwege hier und die Burg ist nicht leicht zu finden! – wird er selber sein Gastgeber zu Abend sein.

Parzivâl meidet alle Irrwege, findet die Burg und bitten einen Knappen, ihm die Zugbrücke herunterzulassen. Als Parzivâl auf den Burghof reitet, merkt er an dem grünen Rasen, dass hier keine Kampfspiele abgehalten werden, einem grossen Leid wegen, das die Bewohner im Herzen tragen.

Er wird mit grosser Höflichkeit empfangen, seine Rüstung wird abgelegt, er darf sich die Rostspuren der Rüstung von Händen und Gesicht waschen und bekommt einen schönen Mantel aus kostbarer arabischer Seide über die Schultern gelegt, den die Herrin der Burg, Königin Repanse de schoye, normalerweise selber trägt und ihm diesmal zur Verfügung stellt. Aber als ein Hofnarr ihn in einem barschen Ton zu Tisch bittet, der wohl als Scherz gemeint ist, wird Parzivâl über diesen misslungenen Witz sofort wütend. Weil sein Schwert jetzt nicht sofort zur Hand liegt, ballt er seine Faust in solchem Zorn zusammen, dass ihm unter den Nägeln das Blut hervorspritzt und den Ärmel netzt. Die Ritter versuchen ihn zu begütigen: “Beruhigt euch, Herr, jener Mann hat das Recht, hier seine Scherze zu treiben, wie traurig wir andern auch sind. Verzeiht es ihm! Er wollte euch nur sagen, dass der Fischer gekommen ist:
ir sît im werder gast: und schütet abe iu zornes last.” [229. 15-22] {ihr seid sein hochwillkommener Gast, also werft von euch die Last des Zornes ab.” Parzivâl geht also zum Abendessen hinein, doch diese nachklingende zornes last wird ihn wohl zum Teil verleitet haben, bald den grössten Fehler seines Lebens zu begehen.

Das Mahl wird in einem riesigen Palast abgehalten, wo hundert Kronleuchter hängen und hundert Ruhelager mit je vier Plätzen stehen. Drei gewaltige viereckige Kamine – worin kostbares Aloeholz lichterloh brennt – sorgen, obwohl es hochsommerlich ist, für Heizung im Saal, denn Parzivâls Gastgeber leidet an Kälte und erscheint ganz in Pelzkleidung vermummt zur Mahlzeit. Parzivâl soll sich zu ihm setzen.

Dann passiert etwas einmaliges: jâmer, die Trauer an sich, wird ihnen vorgetragen. Ein Knappe kommt zur Tür hinein gelaufen mit einer Lanze in der Hand, aus deren Spitze Blut quillt und den Schaft hinabrinnt bis zu Ärmel und Hand. (Das Blut auf Parzivâls Ärmel scheint hier irgendwie eine Parallele.) Er trägt die Lanze in einem Kreis rings durch den Palast und eilt durch die gleiche Tür wieder hinaus. Bei diesem Anblick erhebt sich ein grosses Weinen und Klagen, welches nach seinem Abgang verklingt.

Ohne weitere Erklärung erscheinen nach und nach in verschiedenen zahlensymbolischen Kombinationen vierundzwanzig liebliche Mädchen mit goldenen Leuchtern und Kerzen, mit einem Tisch aus einer dünngeschliffenen Scheibe von Granathyazinth – einem kostbaren lichtdurchlässigen Stein – auf Tischbeinen von Elfenbein, mit zwei silbernen Messern und was sonst noch alles zur Ausstattung gehört. Je zwölf stellen sich zu beiden Seiten der Königin Repanse de Schoye auf, welche in ihren Händen auf einem dunkelgrünen Seidenkissen den Grâl trägt, den wunsch13 von Pârdis, die Quintessenz, den Inbegriff paradiesischer Vollkommenheit, das absolute Ideal, den höchsten Wert, das Gute an sich. Der Grâl ist bêde wurzeln unde rîs {Wurzel und Reisig, Anfang und Ende, das A und das O} allen menschlichen Strebens: “daz was ein dinc, daz hiez der Grâl, erden wunsches überwal” [235. 21-24] {Dieser Gegenstand wurde ‘Grâl’ genannt und übertraf alle Vorstellungen irdischer Glückseligkeit.}

Durch die Kraft des Grâls wird der Gesellschaft nun ein Wundermahl aufgetischt: vorzügliche Speisen und erlesene Getränke aller Arten erscheinen auf Wunsch und werden auf goldenem Tafelgeschirr serviert. Was das Herz begehrt wird sofort von diesem Stein besorgt, genau als wenn man im Himmel wäre:

wan der grâl was der saelden14 vruht,
der werlde süeze ein sölh genuht,
er wac vil nâch gelîche
als man saget von himelrîche. [238. 21-24]
{der Gral war wirklich ein Hort des Glücks, ein Füllhorn irdischer Köstlichkeiten, so dass man ihn fast mit der Herrlichkeit des Himmelreichs vergleichen könnte.}

Parzivâl ist darüber erstaunt, doch er entsinnt sich der Belehrung von Gurnemanz, dass man nicht zu viel fragen soll, darum nimmt er sich vor, stumm zu bleiben und die Wunderdinge einfach zu beobachten. Er fragt auch nicht, als sein Gastgeber ihm ein traumhaftes Schwert schenkt, dessen Griff aus einem riesengrossen Rubin besteht. Er habe es selbst oft im Kampf getragen, bis Gott ihn mit einer schweren Wunde heimgesucht habe. Auch diesen Wink mit dem Zaunpfahl überhört Parzivâl. “Wehe über ihn,” sagt der Erzähler, dass er auch jetzt nicht fragte! Das betrübt mich noch heute – um seinetwillen! Als man nämlich das Schwert in seine Hände legte, wollte man ihn zum Fragen ermuntern. Auch fühle ich Mitleid mit seinem freundlichen Gastgeber, der an einer unheilbaren Wunde dahinsiecht und durch eine einzige Frage hätte erlöst werden können!” [240. 2-9]

Als der Grâl aus dem Palast wieder an seinen Ort getragen wird – wir erfahren später, dass dieser angrenzende Bau der tempel heißt – erhascht Parzivâl einen flüchtigen Blick durch die offene Tür auf einen Greis mit schlohweißem Haar, der nicht ehrfurchtgebietender hätte sein können. Er lernt erst später, wie er heißt und wie seine Geschichte mit der von Parzivâl verflochten ist.

Ganz ohne Tischreden oder sonstige Unterhaltung ist das Mahl vorbei. Der Burgherr rät ihm unvermittelt, sich schlafen zu legen. Parzivâl hat nun im Schlaf einen furchtbaren Traum, mit dem vergleichbar, den seine arme Mutter litt. Es sind Vorboten künftigen Leides, heißt es im Gedicht. Endlose Schwerthiebe und Zweikämpfe füllen die Nacht mit solchem Grausen, dass er lieber dreißigmal am hellichten Tage gestorben wäre, so heißt es, als den Traum zu ertragen. Er erwacht am anderen Morgen ganz in Schweiß gebadet, schläft wieder ein und erwacht erst am späten Vormittag wieder. Er findet keine Pagen mehr, die ihm am Abend beim Ausziehen geholfen hatten.

Er steht auf, zieht sich selber an, bindet sich seine beiden Schwerter um – das alte rote und das neugeschenkte – und durchsucht die ganze Burg: er findet aber keinen Menschen weit und breit. Sein Zorn steigt wieder in ihm auf. Er stürmt auf den Hof, findet seinen Ross und will wegreiten. Da merkt er, dass das ganze Gras im Burghof zertstampft ist. Die Ritter müssen alle früh weggeritten sein. Er folgt fluchend ihrer Spur zum Tore hinaus. Wie er über die Zugbrücke reitet, wird sie so schnell von einem verborgenen Knappen in die Höhe gezogen, dass das Pferd fast zu Fall gebracht wäre. Der Knappe schickt ihm Schimpfworte nach:

ir sult varen der sunnen haz ...
ir sît ein gans.
möht ir gerüeret hân den vlans,
und het den wirt gevrâget!
vil prîses iuch hât betrâget. [247. 26-30]
{Ihr seid nicht einmal wert, dass euch die Sonne bescheint! Zieht ab, ihr beschränkter Dummkopf! Hättet ihr doch euern Schnabel aufgetan und den Burgherrn gefragt! Ruhm und Ehre habt ihr verspielt!}

Parzivâl folgt der Spur nach, aber bald zerstreut sie sich und verschwindt dann ganz. Plötzlich hört er aber eine klagende Frauenstimme und entdeckt seine Kusine Sigûne – anfangs erkennen sie sich nicht mehr – auf einem Baumstamm sitzend, ihren toten, nunmehr einbalsamierten Ritter immer noch in den Armen. Sigûne, dieser Ausbund der Beständigkeit und Treue, gibt ihm nun wieder Auskunft über seine Familie, die Parzivâl vorhin nicht wusste, doch sie hält ein paar Details zurück, z.B. dass Parzivâl auch mit den Gralskönigen und -königinnen verwandt sei, was wir nachher erfahren werden.

Als er ihr erzählt, er habe in einer nahen Burg übernachtet, sagt sie, er solle sie nicht belügen, denn es gebe nur einen Bau innerhalb von dreißig Meilen, und diese Burg habe nie jemand gefunden, der sie mit Vorbedacht gesucht habe. Es handele sich um Schloss Munsalvaesche im Terre {Land} de Salvaesche.15 Der alte Titurel habe die Burg an seinen Sohn, König Frimutel, vererbt, der in manchem Zweikampf gesiegt habe aber dann doch in einer Tjost um die Gunst einer Dame sein Leben habe lassen müssen. Er habe vier16 Kinder hinterlassen, heißt es weiter. Eines – Anfortas – sei der Burgherr in Munsalvaesche, durch Gottes Zorn verwundet. Ein anderes – Trevrizent – habe ein Leben in Armut gewählt, in der Hoffnung, diesen Zorn durch Gebet zu mildern. “Herr,” sagt sie dann, “wärt ihr wirklich zu der gramgebeugten Burggesellschaft gelangt, so hätte der Burgherr von seinem langen Leiden erlöst werden können.”

Parzivâl besteht darauf, dass er in der Tat dort war. Er beschreibt die Wunderdinge, die er da erlebt hatte. Sigûne freut sich – leider vorzeitig – über alle Maßen, denn Anfortas muss ja also von seinen furchtbaren Qualen erlöst worden sein? Wenn ja, so wird Parzivâl über alle Geschöpfe dieser Welt erhoben! Alle Kreatur ist ihm untertan! Unermesslicher Reichtum und höchste Machtvollkommenheit sind sein!

(Inzwischen merkt Sigûne plötzlich an Parzivâls Stimme wer er ist und gibt sich auch ihm zu erkennen. Sie offenbart ihm, dass ihre Mutter seine Tante sei, doch dass beider Mütter zum Geschecht der Grâlkönige gehören, verschweigt sie vorerst noch.)

Dass Parzivâl nun das Schwert von Anfortas bei sich führt, trägt zu ihrer Freude bei und untermauert ihre Hoffnungen. Sie erteilt ihm eine gewisse Insiderauskunft darüber: Das Schwert sei von einem mythischen Schmied namens Trebuchet geschmiedet worden. Es könne, wenn es einmal zerbrechen sollte, dauerhaft wiederhergestellt, durch das Wasser der Quelle Karnant, im Lande des Königs Lac.17 Sie befürchtet, er hat da in Munsalvaesche den Zauberspruch nicht erlernt, doch wenn er ihn erlernt haben sollte, schließt sie die Rede:

so wehset unde kernet
immer saelden craft bî dir:
lieber neve, geloube mir,
sô muoz gar dienen dîner hant
swaz dîn lîp dâ wunders vant:
ouch mahtu tragen schône
immer saelden crône
hôhe ob den werden:
den wunsch ûf der erden
hâstu volleclîche:
niemen ist sô riche,
der gein dir koste mege hân,
hâstu vrâge ir reht getân. [254. 18-30] (Hervorhebungen durch den Zitierenden.)
{dann wird die Kraft der Seligkeit in dir ewig wachsen und sprießen: lieber Vetter, glaube mir, all das Wunderbare, was du dort erblickt hast, gehört dann dir! Hoch über alle anderen Edlen erhoben trägst du die Krone des Heils! Alles, was der Mensch erstrebt, erhältst du im Überfluss. Hast du die entscheidende Frage getan, so gibt es keinen Menschen auf Erden, der sich an Macht und Reichtum mit dir messen kann.}

Leider muss Parzivâl antworten: “ich hân gevrâget niht.” [255. 1] {Ich habe nicht gefragt.} “ôwê daz iuch mîn ouge siht” [255. 1-2] {O weh, dass ihr mir je unter die Augen kamt!} wehklagt die Sigûne, indem sie sich auch von ihm dadurch distanziert, ihn nicht mehr zu duzen, sondern zu ihrzen. Sie spricht eine stechende Zurechtweisung aus, die mit dem Satz endet: “ir lebt, und sît an saelden tôt.” [255. 20] (Hervorhebung durch den Zitierenden) {Zwar lebt ihr, doch euer Lebensglück ist tot!

Sigûne will nun nicht weiter mit ihm reden. Parzivâl reitet schließlich davon, doch er beginnt zu schwitzen, nicht nur wegen der Tageshitze, sondern weil es ihm allmählich dämmert, was er da mit dem Nichtfragen in Munsalvaesche alles weggeworfen hatte: seine Ehre, seinen Ritterruhm, seine Seligkeit– saelden – und die ewige, höchste Glückseligkeit des Himmels – wunsch – alles liegt nun dort am Berge des Heils im Lande des Heils in Trümmern.

Im Wegreiten stösst Parzivâl nun auf eine Spur: vor ihm gingen offenbar ein beschlagenes und ein unbeschlagenes Pferd. Auf letzterem, einer verhungerten Mähre, reitet die Herzogin Jeschûte, deren Kleidung nur noch aus Fetzen besteht, eigentlich nur aus zusammengeknoteten Lumpen. Sie erkennt Parzivâl, weil er der Hitze und des Schweißes wegen seinen Helm abgenommen hatte, und sie bittet ihn umzukehren, bevor sie seinetwegen in weitere Schwierigkeiten gerät. Parzivâl bestreitet stolz – bevor er sie jäh erkennt – je einer Dame Schwierigkeiten gemacht zu haben. Das Wiehern der Pferde alarmiert ihren Mann, den grimmigen Herzog Orilus de Lalander, der nun sofort kehrt macht und Parzivâl angreift.

Ihr Kampf ist heftig, doch am Ende besiegt Parzivâl diesen hochmütigen Maulhelden. Er zwingt Orilus, zu Artûs zu gehen, wie es eben sein Brauch geworden war, um im Namen der Dame Cunnewâre de Lâlant (der Schwester von Orilus!) sein Unterwerfungsgelöbnis abzulegen, der berühmten Tracht Prügel wegen. Parzivâl besteht auch darauf, dass Orilus die Misshandlung seiner Gattin beendet, und Orilus gehorcht auch oberflächlich, doch innerlich glaubt er sich immer noch in seiner Ehre gekränkt.

Parzivâl erspäht in der Nähe eine Einsiedlerklause in der Felsenwand und schwört dann dort feierlich auf einen Reliquienschrein, den er dort auffindet, dass er es war, der damals als Narr die schuldlose Frau gekränkt hatte: sie ist völlig unschuldig. Daraufhin übergibt er ihm zum Zeichen den gestohlenen Ring – die Brosche sei leider verschleudert worden – und sagt, der Ehemann solle ihr den Ehering zurückgeben.

Orilus ist so durch diesen spontanen und unaufgeforderten Eid beeindruckt, dass er beginnt, seine Frau wieder zu lieben und sich um sie zu sorgen. Er sucht dann anschließend König Artûs auf und feiert ein freudiges Wiedersehen mit seiner Schwester, die ihm das Gelöbnis abnimmt.Orilus tritt dann ein in die wachsende Zahl derer, die seiner Schwester Unterstützung bringen, dem ritter rôt aber Ehre und dem verhassten Seneschal Kaye weitere Schande.

Die Einsiedlerklause, wo Orilus von Parzivâl den Eid empfängt, befindet sich in der Nähe der Quelle namens Fontâne la salvâtsche – Quelle des Heils – und gehört einem gewissen Trevrizent, Bruder des Grâlkönigs Anfortas. (Beide sind Parzivâls Onkel.) Und obwohl Trevrizent bei diesem Anlass nicht anwesend ist, wird ein reuiger Parzivâl in genau viereinhalb Jahren und drei Tagen als Büßer zu dieser Klause zurückkehren, um von seinem Onkel in der wichtigsten Phase seines Unterrichts Belehrung zu empfangen. (Trevrizent weiß das Datum ganz genau, wann Parzivâl in seiner Klause war, denn Parzivâl hat auch damals ein Speer mitgehen lassen, der früher von einem gewissen Taurîân dort hinterlassen wurde. Den Tag, an dem der Speer verschwand, merkte sich Trevrizent in seinem Kalendar.)

Unterdessen, am Anfang von Buch V, war der Ruhm des Roten Ritters so gross geworden, dass König Artûs ihm entgegenritt, in der Hoffnung, ihn zu finden, um ihn einzuladen, einer der Tafelritter zu werden. Artûs hatte nämlich ein Dekret erlassen, nach welchem alle Ritter, geringere wie gewaltige, sich verpflichten sollten, nur dann zu kämpfen, wenn sie sich seine Erlaubnis geholt hatten, statt wie die wilden Jagdhunde, deren Herren sie von der Leine gelassen, sich immer sofort in jeden Streit zu stürzen. Ob er die Hoffnung hegte, Parzivâl könnte ihm in seinem Dekret zur Seite stehen oder ob er meinte, Parzivâl selber sei einer der wildesten Jagdhunde, sei dahingestellt, vielleicht beides. Jedenfalls kann Artûs hier seine Ritter noch nicht beherrschen: wie es sich ergibt, bleibt es im Laufe der Ereignisse Parzivâl überlassen, sich und den anderen Rittern bessere Manieren beizubringen.

Die Falkner von Artûs hatten nämlich am Vortage einen ihrer Falken verloren. Nun greift dieser Falke eine Wildgans an, die beim Entkommen drei Blutstropfen in den frischen Schnee fallen lässt. Als Parzivâl diese Tropfen sieht, verfällt er liebeskrank in einen Trancezustand, denn die Blutstropfen erinnern ihn an das Gesicht von seiner Frau Condwîr âmûrs, zwei an ihre roten Backen, einer an ihr Kinn. Vrou Minne, die heißgeliebte hochgestellte Dame der höfischen Epen, welche den Menschen Freude macht und doch auch Schwierigkeiten, hatte ihn gefangen genommen. In seiner Liebestrance hält er aber seinen Speer aufrecht, ein Zeichen, das andere als Kampfbereitschaft misverstehen.

Ausgerechnet ein Knappe der Frau Cunnewâre reitet hier vorbei, sieht Parzivâls Speer, macht kehrt und meldet den Fall am Hof. Ein junger Hitzkopf namens Segramors, ein Verwandter der Königin Gynovêr, platzt in ihr Zelt hinein und bittet die Königin, sie möge doch bitte ihren Mann überreden, ihn mit diesem Unbekannten kämpfen zu lassen. Artûs willigt am Ende nur ungern darein, denn er muss ja sehen können, dass sowas gerade sein Dekret schwächt. Als Segramors angreift, dreht sich Parzivâls Ross um und Parzivâl verliert die Blutstropfen aus den Augen. Sofort wieder wach wirft Parzivâl Segramors mit Leichtigkeit vom Sattel.

Dann bittet Kaye um Erlaubnis, mit diesem unbekannten Ritter kämpfen zu dürfen. Nachdem er den gebannten Parzivâl mit dem Speerschaft über den Kopf haut, dreht sich Parzivâls Ross wieder um, um dem Angreifer entgegen zu schauen. Da kommt Parzivâl wieder zu sich und wirft Kaye über den gefallenen Baumstamm, unter dem die verwundete Gans Zuflucht suchte. In einem Schlag wird sein Pferd getötet und dem Kaye den rechten Arm und das linke Bein gebrochen. Dadurch werden die Prügel, die er Antanor und Cunnewâre versetzt hatten, gerächt. (Jetzt, wo Kaye sein Fett abbekommen hat, kommentiert Wolfram, dass Kaye nicht so schlecht ist, wie er manchmal dargestellt wird. Manchem Fürsten, darunter Wolframs Mäzen Hermann von Türingen, wäre mit einer solchen Viehbremse gedient, denn er würde die schlechten Höflinge vertreiben aber die guten in Ruhe lassen.)

Schließlich reitet Gâwan, der Neffe des Königs, unbewaffnet hinaus, um herauszufinden, wer dieser Ritter da im Schnee sei. Weil er selber manchmal von Vrou Minne eingenommen wurde, vermutet er, dieser Ritter da ist vielleicht durch die Erinnerung an süsse Liebe so versteinert. Anstatt aggressiv auf Parzivâl hinzustürmen, reitet er sanft dazu und lässt seinen Umhang über die Blutstropfen im Schnee fallen. Daraufhin kommt Parzivâl wieder zu Sinnen, hört sich Gawâns Erklärung an, wie er die beiden anderen besiegt hätte – seine Lanze ist ja ganz zersplittert – und folgt Gawân zurück ins Zeltlager. Da wird er herzlich gegrüsst, besonders von denen, die er gerächt hatte, die beiden Orakel Cunnewâre und Antanor. Selbst sein Mord an König Ithêr, dem ritter rôt, wird ihm nachgesehen, obwohl Ithêr der Königin Gynovêr besonders nahe stand.

Und da erfolgt, am Ufer des Flusses Plimizoel, eine grossartige Feier zu Ehren Parzivâls und seiner seltenen Schönheit und Ehre. Ein rundes Tischtuch auf der blümigen Au ersetzt die Tafelrunde, die in Nantes zurückgelassen wurde. Der Schnee – so ungewöhnlich für diese Jahreszeit (Artûs ist ein König des blühenden Mais, nicht des Schnees, sagt uns Wolfram an anderer Stelle) – ist sofort verschwunden. Parzivâl sitzt zwischen König Clamidê, seinem früheren Gegner, und seinem Freund Gâwân. Gerade in diesem Augenblick des höchsten Lobes für Parzivâl passiert aber etwas, was die Gesellschaft der Tafelrunde und insbesondere Parzivâl selber gründlich erschüttert.

Es kommt nämlich eine merkwürdige Jungfrau auf einem dürren, schlitznäsigen, von Brandmalen verunstalteten Maulesel – einem “ungarischen Klepper” gleich – dahergeritten. Sie selber – obwohl kostbar gekleidet – ist beileibe keine Schönheit: “Sie besass eine Nase wie ein Hund. Zwei Eberzähne ragten spannenlang aus ihrem Munde. Ein Zopf hing über den Hut bis auf den Maultierrücken hinab: er war lang, schwarz, spröde, hässlich und so geschmeidig wie Schweineborsten. Sie hatte Ohren wie ein Bär. Ihr ganzes Gesicht war abstossend hässlich... Dieser anmutige Herzensschatz hatte Hände wie von Affenhaut; die Fingernägel waren lang und schmutzig wie Löwenklauen.” [313, 314] Trotz ihres bestialischen Aussehens ist sie außerordentlich gebildet, spricht Latein, Französisch und Arabisch und ist in Dialektik, Geometrie und sogar Astronomie gut bewandert. Sie ist eine Botin vom Grâl. Sie heißt Cundrîe, mit Nachnamen: la surziere (wohl aus dem Französischen: la sorcière = die Zauberin).

Sie meldet Artûs, dass er sich Schande zugefügt und die Tafelrunde ruiniert habe, und zwar dadurch, dass Parzivâl eingeladen wurde, sich ihnen einzureihen. Dann spricht sie Parzivâl an: “Ich erscheine Euch sicher widerwärtig, doch Ihr seid weit abscheulicher als ich. Sagt mir, Herr Parzivâl, warum Ihr den armen Fischer nicht von seinen schmerzlichen Seufzern erlöst habt, als er jammervoll und hilflos vor Euch sass! Er führte Euch doch deutlich genug vor Augen, wie schwer ihn die Bürde seiner Not drückte. Treuloser Gast! Ihr hättet Euch doch seiner Qual erbarmen müssen! Die Zunge sollt Ihr verlieren, wie Euer Herz jede rechte Gesinnung verloren hat! Gott hat Euch schon verworfen und für die Hölle bestimmt, und auch auf Erden wird man Euch zur Hölle wünschen, wenn die Edelleute Euch erst durchschaut haben. Ihr Gefährder des Heils, Fluch des Glücks, Verächter wahren Ruhms! Eure Mannesehre schwindet, und Euer Ansehen ist so hinfällig, dass kein Arzt mehr helfen kann... Ihr trügerischer, gefährlicher Lockköder, Ihr giftgefüllter Natterzahn! ... Ein Spielzeug der Teufel seid Ihr, abscheulicher Herr Parzivâl!” [315,316] Anschließend gibt Cundrîe einen Überblick in den Stammbaum Parzivâls: er sei gar nicht mit seinem tapferen Vater und mit seinem ruhmreichen Bruder Feirefîz, einem mächtigen König im Morgenland – dessen Haut schwarz und weiß gefleckt sei – zu vergleichen.

Bevor sie wegreitet, fordert sie die Ritter der Tafelrunde auf, vier Königinnen und 400 Jungfrauen zu befreien, welche in einer Burg gefangen seien, die Schastel marveile heiße (wohl vom Altfranzösischen: Chastel de la merveille = Kastell der Wunder = Zauberschloss), worüber wir demnächst viel mehr erfahren werden. Ihre letzten Worte sind eine Art Lamento, ein Wehklagen für Munsalvaesche: ay Munsalvaesche, jâmers zil! wê daz dich niemen troesten wil! [318. 29-30] {Ach, Munsalvaesche, du Ort tiefster Not! Weh, nun wird dir niemand mehr Hilfe bringen!}

Kaum ist sie weggeritten, als ein zweiter Bote erscheint, ein gewisser Fürst Kingrimursel, der diesmal für Gâwân eine Hiobsbotschaft bringt: er wirft Gâwân vor, seinen Vetter König Kingrisîn heimtückisch bei der Begrüssung ermordet zu haben. Und obwohl Gâwân in der Tat unschuldig ist – ein anderer hat den Mord begangen – und durch einen Irrtum beschuldigt wurde, wird Gâwân aufgefordert, in 40 Tagen in der Stadt Schanpfanzûn zu erscheinen, wo Kingrimursel lantgrâve (Landgraf) sei. Er bietet Gâwân freies Geleit in sein Land, das Land Ascalûn, denn niemand außer ihm soll mit Gâwân dort kämpfen.

Bei all diesen schlechten Nachrichten bricht die Gesellschaft der Tafelrunde in alle Himmelsrichtungen auf: Gâwân nach Ascalûn, um seine Unschuld zu beweisen. Einige der Ritter wollen nach Schastel marveile die gefangenen vier Edelfrauen und die 400 Jungfrauen befreien gehen. (Später erfahren wir, dass es sich bei den Edelfrauen um die Mutter, eine Schwester und zwei Nichten von Artûs handelt. Diese beiden Nichten sind auch Gâwâns Schwestern!) König Clamidê ist neuerdings mit Cunnewâre vermählt – Parzivâl selber war als Heiratsvermittler tätig – und das neue Paar zieht nach dem Königreich Brandigân, um ihr Hochzeitsfest zu feiern. Orilus und seine wiederhergestellte Gattin Jeschûte begleiten sie. König Artus und Königin Gynovêr fahren nach Karidoel nach Hause. Parzivâl geht auf die Suche nach dem Grâl.

Als sie auseinander gehen, spricht Gâwân einen Segen auf Parzivâl aus; er betet, dass Gott Parzivâl im Kampf beistehen möge und dass er Parzivâl eines Tages noch dienen dürfe. Da platzt aus Parzivâl eine Form der Frage heraus, die er einmal seiner Mutter gestellt hatte: “wê waz ist got” {Ach, wer ist Gott?} aber jetzt ist das keine unschuldige Frage eines Kindes, sondern ein Ausdruck des Zweifels und des Hasses auf Gott:

waer der gewaldec, sölhen spot
het er uns bêden niht gegeben,
kunde got mit kreften leben.
ich was im dienstes undertân,
sît ich genâden mich versan.
nu wil ich im dienst widersagen:
hât er haz, den wil ich tragen. [332. 1-8]
{Wäre er wirklich allmächtig und könnte er seine Allmacht offenbaren, so hätte er uns beiden nicht solche Schmach angetan. Ich war ihm stets ergeben und zu Diensten, und ich hoffte auf seinen Lohn. Doch jetzt kündige ich ihm den Dienst! Ist er mir feind, so will ich’s tragen!}

Hier, am Ende von Buch VI, wo viele der roten Fäden des Gedichts bisher in solche ehlichen Happyends wie die von Clamidê und Cunnewâre, Orilus und Jeschûte münden und von der Bildfläche verschwinden, schärft der Erzähler seinen Fokus nun auf den braven und frommen Gawân ein, eine wichtige Kontrastfigur zu Parzivâl.

Parzivâl seinerseits, der in seinem Zornausbruch Gott selber den Krieg erklärt hat, muss nun vorübergehend – genauer: viereinhalb Jahre – in den Hintergrund treten. Er kommt dann kurz in Buch IX als demütiger Büßer einmal wieder zum Vorschein, wo er zwei Wochen bei seinem Onkel Trevrizent verbringt. Da versöhnt er sich mit Gott, doch er muss bis ans Ende des Gedichts noch weiter seinen einsamen Büßerweg gehen. Einen solchen stolzen Zorn gegen Gott wie Parzivâl ihn hegt kann erst nach langem Leidensweg glaubwürdig überwunden werden! (Allerdings sehen wir ab und zu von Parzivâl noch Lebenszeichen am Rande der Erzählung über Gawân: mal kämpft hier ein unbekannter Roter Ritter, mal kam gestern da einer auf der Suche nach dem Grâl durch die Gegend geritten, usw.)

Der Kontrast zwischen Gawân und Parzivâl ist sofort bemerkbar: Parzivâl sucht immer und überall Streit, weil er immer noch die Bürde des Zorns trägt, die ihn auch damals abhielt die fatale Frage zu stellen. Gawân dagegen macht sich auf, einen Streit zu meiden, weil er sich unschuldig weiss. Er ist kein Feigling, doch aus Besonnenheit und Vernunft streitet er nur dann, wenn er z.B. einer jungen Dame zu Hilfe eilen kann, wie es in Buch VII passiert, bei der Belagerung der Stadt Bêârosche. Auch diesen Kampf bricht er ab, als er merkt, dass seine Verwandten – gefangene Ritter von König Artûs, die gezwungen wurden, einem anderen Herrn zu dienen – auf der anderen Seite kämpfen. (Der unbekannte Rote Ritter kämpft hier übrigens auch, und zwar “auf der falschen Seite.”) [382, 383]

Buch VIII beschreibt Gawâns Abenteuer, wie er gegen Ende der vierzigtägigen Frist im Königreich Ascalûn ankommt, um seinen Termin mit Fürst Kingrimursel in der Stadt Schanpfanzûn einzuhalten. Leider trifft er zuerst König Vergulaht an, einen Sohn des erschlagenen Königs Kingrisîn. (Eigenartig, dass in dieser engverbundenen Verwandschaft König Kingrisîn mit einer gewissen Flûrdamûrs verheiratet war, welche die Schwester von Parzivâls Vater Gahmuret ist!)

König Vergulaht, Parzivâls Vetter also, ohne die Identität von Gawân zu kennen, sieht in diesem schönen Mann eine gute Partie für seine heiratsfähige Schwester Antikonîe. Er bringt ihn mit ins Schloss nach Hause. Gawân und Antikonîe verstehen sich auf Anhieb sehr gut und sitzen bald in einer Umarmung da, als plötzlich ein älterer Ritter ins Zimmer stürzt, der Gawân zufällig kennt. Sein Zeter- und Mordiogeschrei wirft diesem vermeintlichen Mörder des Vaters noch einen Vergewaltigungsversuch bei der Tochter auf den Kopf.

Gawân und Antikonîe flüchten sich in einen Turm, wo sie sich ihre Angreifer auf der Treppe vom Leibe halten, indem sie ein grosses schweres Schachspiel als Waffe zweckentfremden: das Brett dient ihnen als Schild; die Figuren dienen als Wurfgeschosse. König Vergulaht, der sich hintergangen glaubt, beteiligt sich an dem Angriff, denn er weiß ja nichts von dem freien Geleit, das sein Landgraf Kingrimursel Gawân versprochen hatte.

Als Landgraf Kingrimursel zu diesem Schlamassel stösst, wirft er sich ja auf Gawâns Seite, denn er füht sich in seiner Ehre gekränkt. Die Soldaten wollen aber nicht gegen ihren eigenen Landgraf kämpfen und bitten den König, er soll den Kampf beenden und einen Waffenstillstand ausrufen, damit man die Lage klären kann.

Während der Unterhandlung offenbart der König, dass er inzwischen noch ein Problem hat: ein Ritter (der ganz gewiss Parzivâl gewesen sein muss) habe ihn neulich besiegt und ihm ein Versprechen abgezwungen, ein Jahr lang den Grâl zu suchen (wenn er ihn innerhalb eines Jahres nicht finden kann, sollte er zu Condwîr âmûrs gehen und ihr seinen Dienst anbieten). Man macht den Vorschlag, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Gawân soll an seiner Stelle den Grâl suchen. Nach einem Jahr können sie dann ruhig den Kampf aufnehmen.

Diese Abschweifung über Gawân führt uns dann zu Buch IX, dem wohl wichtigsten Kapitel in der Bildung Parzivâls und dem Drehpunkt18 des Gedichts überhaupt, beides entwicklungs- wie strukturgemäß. Das Buch fängt mit einem einmaligen Dialog zwischen dem Erzähler und frau âventiure an, die der Erzähler über Parzivâl ausfragt und darüber Kundschaft begehrt, was Parzivâl so in der Zwischenzeit gemacht hat, seitdem er von Artûs wegritt. Sie erwidert, dass Parzivâl viele Länder durchwandert habe, zu Pferd und zu Schiff. Er habe alle Feinde besiegen können, dabei von seinem Amfortas’schen Zauberschwert unterstützt, das – wie vorausgesagt – zuerstmal zerbrach, dann im Wasser der Quelle Karnant, genannt Lac, erneuert wurde.

Unterdessen kommt Parzivâl eines Tages in einen Wald und sieht eine Einsiedlerklause. Darin findet er seine Kusine Sigûne mit dem Leichnahm ihres verstorbenen Schîânatulanders nunmehr in einem Sarg liegend, vor dem sie ständig betet. Cundrîe la surziere bringt ihr jede Woche am Samstagabend eine Zuteilung Lebensmittel vom Grâl.

Cundrîe sei nur kurz zuvor weggeritten, sagt sie. Parzivâl soll ihr nacheilen, denn sie reite ja vielleicht zurück zum Grâl. Aber Parzivâl verliert bald ihre Spur und stösst stattdessen auf einen Grâlsritter aus Munsalvaesche, der hier den heiligen Wald verteidigt und Parzivâl angreift. In der Tjost stürzt Parzivâls Ross in eine tiefe Schlucht hinein und zerschmettert ganz unten am Boden. Parzivâl selbst rettet sich im letzten Augenblick an dem Ast einer Zeder. Auch sein Gegner, der templeis19 – der Ausdruck wird hier zum ersten Mal benutzt; er bezieht sich auf diejenigen vom Grâltempel – fällt in die Schlucht, doch ihm passiert nichts und er kann auf der anderen Seite aus der Schlucht herausklettern, sein Pferd allerdings auf Parzivâls Seite zurücklassend. Durch diese Begegnung kommt Parzivâl in den Besitz von einem Pferd, das dem Grâl gehört und folglich auch das Zeichen der Turteltaube auf der Equipage führt. Ein Pferd hat Parzivâl oft genug im Leben auf die richtige Fährte gebracht, was auch diesmal zutrifft.

Das dauert aber ziemlich lange, denn nach diesem Zweikampf muss Parzivâl noch etwas umherirren und kommt anscheinend immer weiter von Munsalvaesche ab. Eines Morgens aber, als Neuschnee gefallen war, begegnet Parzivâl einem alten Ritter mit seiner Familie auf einer Pilgerschaft. Dieser sagt Parzivâl, dass heute Karfreitag sei und es sei unangebracht, dass Parzivâl an einem hohen Feiertag Waffen trage. Parzivâl erwidert, er wisse weder wann das Jahr begann noch was für ein Tag heute ist; er habe früher Gott gedient aber lange schon gehe ihm Gottes Hilfe ab. Der Greis reagiert darauf mit einer kleinen Predigt und mit dem Rat, Parzivâl solle sich bei einem Heiligen melden, der hier gleich wohne. Dieser könne ihm alles sonst erklären und ihm seine Sünden abnehmen:

meint ir got den diu magt gebar?
geloubt ihr sîner mennescheit,
waz er als hiut durch uns erleit,
als man diss tages zît begêt,
unrehte iu denne dez harnasch stêt.
ez ist hiute der karfrîtac,
des al diu werlt sich freun mac
unt dâ bî mit angest siufzec sîn.
wâ wart ie hôher triwe schîn,
dan die got durch uns begienc,
den man durch uns anz kriuze hienc?
hêrre, pflegt ir toufes,
sô jâmer iuch des koufes:
er hât sîn werdeclîchez lebn
mit tôt für unser schult gegebn,
durch daz der mensche was verlorn,
durch schulde hin zer helle erkorn.
ob ir niht ein heiden sît,
sô denket, hêrre, an dise zît.
rîtet fürbaz ûf unser spor.
iu ensitzet niht ze verre vor
ein heilec man: der gît iu rât,
wandel für iwer missetât.
welt ir im riwe künden,
er scheidet iuch von sünden. [448. 2-26]
{Meint Ihr den Gott, den die Jungfrau Marie geboren hat? Wenn Ihr an seine Menschwerdung glaubt und daran, was er um unsertwillen an diesem Tag, den man deshalb festlich begeht, erlitten hat, dann tut Ihr unrecht die Rüstung zu tragen. Heute ist Karfreitag, und da sollten sich alle Menschen freuen, aber auch seufzen und bangen. Hat es je eine grössere Treue gegeben, als sie uns Gott erwies, da er für uns ans Kreuz geschlagen wurde? Herr, wenn Ihr getauft seid, lasst Euch dies zu Herzen gehen! Er hat sein hochheiliges Leben hingegeben für unsre Schuld, derentwegen der Mensch verloren und der Hölle verfallen war. Wenn Ihr kein Heide seid, dann begeht diesen Tag, wie es sich gehört! Folgt unsrer Spur. Nicht weit von Euch wohnt ein heiliger Mann, der Euch raten und eine Buße für Eure Missetat auferlegen wird. Zeigt Ihr Euch reuig, wird er Euch eure Sünden vergeben.}

Die Töchter laden Parzivâl ein, mit in ihr Lager zu kommen, wo sie warmes Zeug und Essen auch für ihn bereit hätten, doch er bedankt sich, denn er hasst den Gott, den sie lieben, und er ist zu Pferd während sie zu Fuss sind. Folglich dreht er sich von ihnen weg, doch die Erbschaft seiner zarten Mutter beginnt sich bemerkbar zu machen und zum ersten Mal in seinem Leben denkt Parzivâl ernsthaft über seinen Schöpfer nach:

sît Herzeloyd diu junge
in het ûf gerbet triuwe,
sich huop sîns herzen riuwe.
alrêrste er dô gedâhte,
wer al die werlt volbrâhte,
an sînen schepfaere,
wie gewaltec der waere.
er sprach ‘waz ob got helfe phligt,
diu mînem trûren an gesigt?
wart ab er ie ritter holt,
gedient ie ritter sînen solt,
ode mac schilt unde swert
sîner helfe sîn sô wert,
und rehtiu manlîchiu wer,
daz sîn helfe mich vor sorgen ner,
ist hiut sîn helflîcher tac,
sô helfe er, ob er helfen mac.’ [451. 6-22]
{Trauer zog in sein Herz, denn die junge Herzeloyde hatte ihm ihre treue Gesinnung vererbt. Endlich wandte er seine Gedanken dem zu, der die ganze Welt erschaffen hat. Er dachte an seinen Schöpfer, an seine Allmacht, und er sprach zu sich: ‘Ob Gott mir wohl helfen kann, meine Trübsal zu überwinden? War er je einem Ritter freundlich gesinnt, erdiente je ein Ritter seinen Lohn, können Schild, Schwert und rechte Mannestat seiner Hilfe würdig machen und von Trübsal erlösen, ist schließlich heute sein hilfreicher Tag, dann helfe er mir, wenn er helfen kann!’}

In Gott vertrauend, dessen Macht gross genug ist, “daz si beidiu ors unde tier unde die liut mac wîsen [452. 2-3] {dass sie beide, Ross und sonstige Tiere wie auch die Menschen nach seinem Willen lenken kann}, streift Parzivâl seinem Pferd die Zügel über den Hals und treibt es mit den Sporen an, das Reittier Gottes Lenkung überlassend. Da trabt es auf Fontane la salvatsche zu, wo einst Orilus von Parzivâl den Eid hörte und wo Parzivâl nun von seinem Onkel Trevrizent, dem Einsiedler, einen Unterricht über die Gehemnisse des Grâls und die Vergebung seiner Sünden erhalten soll.


Der Erzähler erklärt, warum er so lange gewartet hat, uns mehr über den Grâl zu offenbaren: die âventiure selbst habe Kyôt bis auf Widerruf verboten, darüber zu schreiben. Kyôt, für seinen Teil, soll Wolframs Sprecher gesagt haben, er soll erst davon reden, wenn er dazu aufgefordert werde. Solche komplexe Schichtungen in der Erzählkunst werfen die Frage auf, ob Wolfram sich nicht von der unmittelbaren Verantwortung für die Verbreitung der Grâlsgeschichte distanzieren wollte, denn diese Geschichte mit ihrem Tempel gehört ohnehin nicht gerade zum zentralen Korpus des orthodoxen christlichen Dogmas. Wolfram scheint auch sehr bemüht zu sein, zu zeigen, dass die Kunde vom Grâl nicht etwa durch Zauberkünste sondern allein durch den christlichen Glauben hervorkommen konnte: nur ein getaufter Christ wie Kyôt habe die Grâllegende herausfinden können.

Wie dem auch sei, dieser Kyôt habe, so will es das Gedicht, in Dôlet (Toledo) einen Band vergessener Überlieferungen gefunden, in heidenischer schrifte ( = Arabisch) gefasst, welche Sprache Kyôt schon vorher gelernt habe “ân den list von nigrômanzî.” {ohne Hilfe von der schwarzen Kunst}:

ez half daz im de touf was bî:
anders waer diz maer noch unvernumn.
kein heidensch list möcht uns gefrumn
zu künden umbes grâles art [453. 12-21]
{ihm kam zustatten, dass er getauft war, sonst wäre die Erzählung bis heute unbekannt geblieben. Keine heidnische Wissenschaft reicht nämlich aus, das Wesen des Grâls zu entschlüsseln und in seine Geheimnisse einzudringen.}

Der Verfasser dieses Bandes soll ein gewisser Gelehrter namens Flegetânîs gewesen sein, mütterlicherseits ein Israelite, ein Abkomme König Salomos. Väterlicherseits soll er aber ein Muslime gewesen sein, der ein Kalb anbetete, was Wolfram schärfstens verdammt: “Wie konnte der Teufel ein verständiges Volk zu so schmählichem Tun verführen!” Flegetânîs war Astronom und sah verborgene Mysterien in den Sternenbildern, darunter ein Ding, das der Grâl heißt:

ein schar in ûf der erden liez:
diu fuor ûf über die sterne hôch.
op die ir unschult wider zôch,
sît uoz sîn pflegn getouftiu fruht
mit alsô kiuschlîcher zuht:
diu menscheit ist immer wert,
der zuo dem grâle wirt gegert. [454. 24-30]
{Eine Schar von Engeln ließ ihn auf der Erde zurück, bevor sie hoch über die Sterne emporschwebte und vielleicht, von ihrer Schuld befreit, wieder in den Himmel gelangte. Seither müssen ihn Christen mit ebenso reinem Herzen hüten. Wer zum Grâl berufen wird, besitzt höchste menschliche Würde.}

Nachdem er diese Beschreibung las, so Wolfram, suchte Kyôt in den lateinischen Büchern, in den Chroniken vieler Länder nach, um zu sehen

wâ gewesen waere
ein volc dâ zuo gebaere
daz ez des grâles pflaege
unt der kiusche sich bewaege. [455. 5-8]
{wo es ein Volk gegeben habe, das dank seiner Reinheit zum Schutz des Grâls berufen wurde.}

Schließlich findet Kyôt die gesuchte Kunde in einer Chronik von Anjou, einem Teil Frankreichs (heute: das département von Maine-et-Loire). Darin kann er von Mazadân und seinen Nachkommen lesen, wie z.B. Tyturel und sein Sohn Frimutel den Grâl an Anfortas vermachteten, dessen Schwester Herzeloyde war, um deren und Gahmurets Sohn sich diese Erzählung handelt.

Während diesem Exkurs reitet Parzivâl die ganze Zeit dem Pfad entlang, der zu seinem Onkel Trevrizent führt. Dieser begrüsst ihn, wiederholt die Ermahnung des alten Pilgers, nicht am heutigen Tag Rüstung und Waffen zu tragen, und lädt ihn ein, abzusitzen und sich am Feuer zu erwärmen. Parzivâls erste Worte an ihn sind aber alles andere als Alltagsgruss:

hêr, nu gebt mir rât:
ich bin ein man der sünde hât. [456. 29-30]
{Herr, gebt mir einen Rat, denn ich bin ein sündenbeladener Mensch.}

Parzivâl berichtet, dass ein Greis im Wald mit seiner Pilgerschar ihn zu Trevrizent geschickt habe. Sein Onkel erwidert, der Herr heiße Kahenîs und sei ein guter Mann, der jedes Jahr mit seiner Familie hier auf Pilgerschaft sei. Neffe und Onkel gehen dann zusammen in die Höhle, wo Parzivâl die Rüstung ablegt und sich am Feuer erwärmt. Er erkennt den Reliquienschrein dort als derselbe, an dem er das Eid vor Orilus schwur. Dies sagt er seinem Onkel, und dass er einen Speer mitgenommen habe. Daraufhin sagt ihm Trevrizent, es seien seit dem Tag genau viereinhalb Jahre und drei Tage vergangen, denn er habe es sich damals in seinem Psalterkalendar gemerkt, worin all die heiligen Tage des Jahres stehen.

Parzivâl bricht in Tränen aus, denn erst jetzt weiß er, wie lange sein Leidensweg bisher war. Es platzt wieder aus ihm heraus, dass er Gott Hass nachtrage, denn er brauche Gottes Hilfe, Gott habe sie ihm aber geweigert. Trevrizent erwidert, Gott könne nicht treulos handeln und ermahnt Parzivâl, dass der Fall Luzifers und seiner Gesellen mit solcher Galle und Verbitterung seinen Anfang nahm. Nach ihrem Fall, fährt Trevrizent fort – in Parzivâls erster theologischer Lektion – schuf Gott den würdigen Adam aus Erde und aus Adams Rippe schuf er Eva, welche nicht auf das Gebot ihres Schöpfers hörte und dadurch das Heil der Menschheit zerstörte. Eines ihrer beiden Kinder ließ sich von seinem Jähzorn hinreißen und aus Habgier und Prahlsucht hat er seiner Grossmutter die Jungfräulichkeit beraubt.

Parzivâl unterbricht ihn, ihm seine Zweifel an der Möglichkeit einer solchen Tat auszudrücken, doch Trevrizent erklärt es so: Die Erde war Adams Mutter, und doch war sie eine Jungfrau. Als Kain Abel erschlug, fiel Blut auf die reine Erde. Als das Blut die jungfräuliche Erde netzte war ihre Unschuld dahin:

dô huop sich êrst der menschen nît:
alsô wert er immer sît. [464. 21-22]
{Da erhob sich zum ersten Mal der Neid und seither herrscht Unfriede unter den Menschen.}

Trevrizent fährt fort:

Von Adâmes künne
huop sich riwe und wünne,
sît er uns sippe lougent niht,
den ieslîch engel ob im siht,
unt daz diu sippe ist sünden wagen
sô daz wir sünde müezen tragen. [465. 1-6]
{Unsere Abstammung von Adam brachte uns Leid und Wonne zugleich: Wonne, weil der Herr über alle Engelscharen seine Verwandtschaft mit uns anerkennt, Leid, weil wir von Adam eine Wagenladung Sünden geerbt haben und sie tragen müssen.}

Aber die Erlösung von unseren Sünden, vor vielen Jahren von dem Profeten Platon und von der Profetin Sibylle vorausgesagt, kommt zu Adams Geschlecht in der Person eines wahrhaft Liebenden, eines wâren minnaere:

Von dem wâren minnaere
sagent disiu süezen maere.
der ist ein durchliuhtec lieht,
und wenket sîner minne nieht.
swem er minne erzeigen sol,
dem wirt mit sîner minne wol. [466. 1-6]
{Diese herrlichen Verheißungen künden von dem wahrhaft Liebenden. Er ist ein durchdringend strahlendes Licht, unwandelbar in seiner Liebe. Wem er seine Liebe offenbart, der ist selig in seiner Liebe.}

Schließlich fragt Trevrizent Parzivâl, was für Mühsal und Sünden ihn drücken. Sein grösster Kummer sei um den Grâl, antwortet er, und sein zweitgrösster sei sein Fernbleiben von seiner Frau. Trevrizent billigt Parzivâls Treue als Ehemann, doch er nennt ihn einen Toren, denn:

jane mac den grâl nieman bejagn,
wan der zu himel ist sô bekant
daz er zem grâle sî benant. [468. 12-14]
{den Grâl kann allein erringen, wer im Himmel bekannt genug ist, zum Grâl berufen zu werden}

Ohne zu offenbaren, dass er den Grâl selber gesehen hatte, bittet
Parzivâl Trevrizent um Auskunft darüber. Viele wehrhafte Ritter wohnten dort in Munsalvaesche, erwidert sein Onkel, welche templeise genannt würden. Wenn sie auf Abenteuer ausreiten müssen, sähen sie das nicht als etwas Positives sondern als Buße für ihre Sünden. Diese tapfere Schar erhalte Speise und Trank von einem makellos reinen Stein, der lapsit exillîs20 heiße. (Es sei eben die Wunderkraft dieses Steins, die auch den Phönix zu Asche verbrennen und dann zum neuen Leben hervorgehen lasse.) Erblicke ein todkranker Mensch diesen Stein, so könne ihm in der folgenden Woche der Tod nichts anhaben. Er altere auch nicht, obwohl seine Haare lediglich ergrauen möchten. Der Stein verleihe den Menschen solche Lebenskraft, dass der Körper seine Jugendfrische bewahre.

Jedes Jahr am Karfreitag, also ausgerechnet heute, fliege eine Taube vom Himmel herab und trage eine kleine weiße Oblate zu diesem Stein, diesem wunsch von pardîs, die in ihm die Wunderkraft erneuere, die köstlichsten Getränke und Speisen dieser Erde in überströmender Fülle darbieten zu können.

Namen und Familienstammbaum der Kinder, die für die heilbringende Fahrt zum Grâl berufen würden, erschienen am oberen Rand des Steins in der Form einer geheimnisvollen Inschrift: von karacten ein epitafum. [470.24] Solche Mädchen und Knaben würden aus allen Ländern geholt und sie blieben beim Grâl ihr Leben lang frei vom Makel der Sünde. Gehe ihr Leben auf Erden zu Ende, dann fänden sie im Himmel höchste Erfüllung (wunsch).

Der Grâl sei von jenen edlen und erhabenen Engeln zur Erde gebracht worden, welche im Kampf zwischen Luzifer und der göttlichen Dreieinigkeit für keine Seite Partei hätten ergreifen wollen. Als Strafe seien sie auf die Erde gebannt worden, um den makellos reinen Stein zu hüten. Trevrizent will nicht wissen, ob Gott sie schon verworfen oder ihnen verzeihen habe; jedenfalls hüten den Grâl jetzt Menschen

die got derzuo benande
und in sîn engel sande.
hêr, sus stêt ez umbe den grâl. [471.27-29]
{die Gott dazu berufen und denen er seinen Engel geschickt hat. Herr, so steht es also um den Grâl.}

Parzivâl behauptet, seine Talente auf dem Gebiet Kämpfen müssten ihn qualifizieren: wenn Gott etwas von Kampfestaten verstehe, müsste er ihn zum Grâl berufen. Trevrizent reagiert mit Geduld auf diesen Aberwitz und warnt Parzivâl vor solcher hôchvart (eitler Selbstüberhebung), der vor dem Fall komme, bevor er – mit Tränen in den Augen von der traurigen Mär – zu einem Anschauungsunterricht übergeht:

Es lebe in Munsalvaesche ein König mit Namen Anfortas, erzählt er. Der Stolz habe dem König herzzerreißende Not eingebracht: “Seine Jugend, seine Macht und ein Liebesverlangen, das alle Grenzen von Vernunft und Sittsamkeit überschritt, brachten ihm bitteres Leid. Solche Haltung verstösst gegen die Satzungen des Grâls.” Trevrizent weicht nun vom Thema vorübergehend ab und sagt, nur ein einziger Mensch sei ein einziges Mal unberufen zum Grâl gelangt: “Er war jedoch ein Tor, und er zog sündenbeladen von dannen. Er versäumte es nämlich den Hausherrn nach der Ursache seines Elends zu fragen, obwohl er ihn deutlich genug leiden sah.” [473. 11-16]

Jetzt weicht Trevrizent noch etwas weiter vom Thema ab, denn ihn interessiert auf einmal woher Parzivâl das Pferd hat, das er bei sich führt. Es war nämlich einer namens Lähelîn, sagt er (man wird sich daran erinnern: Lähelîn hat auch Parzivâls Reiche gestohlen und ist auch der Bruder von Orilus und von der Cunnewâre). Der hatte einmal am See Brumbâne mit einem templeis namens Lybbêâls einen Kampf geführt. Lähelîn tötete Lybbêâls und nahm nach einer Art Leichenfledderei sein Pferd mit. Weil das Pferd von Parzivâl hier am Sattel das Bild einer Turteltaube trägt, fragt sich Trevrizent, ob sein Besucher etwa Lähelîn sei. Das Zeichen der Turteltaube, fügt er übrigens hinzu, wurde von Tyturel an seinen Sohn Frimutel vererbt, der seine Frau in unwandelbarer Treue innig geliebt hat, was für Parzivâl ein Vorbild sein könne, zumal Parzivâl dem Frimutel ähnlich sieht, stellt Trevrizent plötzlich erstaunt fest. Sein Anschauungsunterricht wird noch ein wenig verschoben, denn jetzt fragt er Parzivâl nach seiner Herkunft und seinem Familiengeschlecht.

Parzivâl erwidert, sein Vater habe Gahmuret geheißen. Er sei nicht Lähelîn, doch auch er habe einmal einen Toten beraubt: seine sündige Hand habe Ithêr von Kukumerland erschlagen. Trevrizent ist entsetzt. Er erzählt Parzivâl, den er jetzt seinen Neffen nennt, dass Ithêr sein eigen Fleisch und Blut gewesen sei. (Später erfahren wir mehr: Ithêr war auch einmal Trevrizents Knappe, ein Vermächtnis von Parzivâls Vater Gahmuret, der Trevrizent auch den grünen Stein gab, aus dem der Reliquienschrein gefertigt wurde, auf dem Parzivâl vor Orilus den Eid schwur!)

Trevizent verrät Parzivâl nun endlich, dass seine Schwester Herzeloyde, Parzivâls Mutter, um Parzivâls wegen gestorben sei. Er habe noch eine Schwester gehabt, fährt er fort, Schoysîâne, Mutter der Sigûne (die bei der Geburt gestorben sei), und er habe noch eine, Repanse de schoye, welche allein den Grâl hüten und hereintragen dürfe, der allerdings so schwer sei, dass ihn die ganze sündige Menschheit nicht von der Stelle bewegen könnte.

So kommt Trevrizent auf indirektem Wege zu der Geschichte von Anfortas zurück, seinem und der Repanse de schoye älteren Bruder. Als Anfortas beim Tode seines Vaters Frimutels die Nachfolge im Amt als künec (König) und vogt (Schutzherr) des Grâls und der Grâlgemeinschaft antrat, waren er und Trevrizent noch Kinder. Nun trat aber bald Anfortas in jenes Lebensalter, in dem die ersten Barthaare sprießen und die Liebe ihm zu schaffen machte. “Liebt aber ein Grâlsherrscher eine andere Frau, als ihm die Inschrift auf dem Grâl bestimmt, dann wird er mit Drangsal und beklagenswertem Herzeleid gestraft.” [478. 13-16]

Anfortas sei dessenungeachtet oft unter dem Kampfruf ‘Amor!’ auf verbotene Abenteuersuche ausgeritten, bis er eines Tages von einer heidnischen Lanze an seiner heidruose (vgl. auch die mittelhochdeutsche Variante: hegedruose, ‘die Drüse, die man hegt’ = die Hode) verwundet worden sei. Weil die Lanze vergiftet gewesen sei, heilt die Wunde nie aus. Ein Arzt habe die Wunde untersucht und habe darin die Lanzenspitze entdeckt mit einem Splitter des Bambusschaftes noch daran.

Trevrizent habe sich sofort betend auf die Knie geworfen und Gott gelobt, sein Ritterleben zu entsagen, wenn Gott seinen Bruder aus der Not erretten wolle. Außerdem habe er Fleisch, Wein, Brot und alles, was Blut in den Adern hat, verschworen. (Weil Blut an die Gewalt erinnert? Brot und Wein sind vermutlich auch in diesem Zusammenhang Symbole der Ermordung Christi?) Anfortas habe man vor den Grâl getragen, aber das vermehrte nur seine Qualen, denn nun konnte er nicht sterben und musste ewig leiden, besonders wenn die Wunde heftig eiterte.

Jetzt folgt im Gedicht eine vollständige mittelalterliche Apotheke aller möglichen Heilmittel, die man bei Anfortas angewendet hatte, alles ohne Erfolg. Schließlich warf man sich vor den Grâl auf die Knie. “Da zeigte sich eine Schrift auf seinem Rand: ein Ritter würde kommen. Sollte er mitleidig nach dem Geschick des Königs fragen, dann hätte alles Elend ein Ende. Doch dürfe ihn niemand auf die Wichtigkeit der Frage hinweisen, sonst würde sie nicht helfen. Die Wunde bliebe dann unverändert, ja sie bereite noch grössere Schmerzen als vorher. ... Fragt er nicht gleich in der ersten Nacht, dann ist die Gelegenheit verpasst, späteres Fragen wirkt nicht mehr.” [483. 19-30; 484. 1-2]

Jedoch, wenn der verheißene Ritter fragen sollte, “dann soll er die Herrschaft über das Königreich übernehmen, und alles Elend ist nach dem Willen des Allerhöchsten vorbei. Anfortas wird dann genesen, doch soll er nicht mehr König sein.” [484. 3-8] Es kam ein Ritter, erinnert sich Trevrizent traurig, doch er sagte nicht zu seinem Hausherrn: “hêrre, wie stêt iwer nôt?” [484. 27] {Herr, was fehlt euch?}, darum verscherzte er das grosse Glück (saelde), das ihn erwartete.

An dieser Stelle ist es fast Mittag, also unterbrechen Neffe und Onkel ihr Gespräch, um dem Pferd Eibensprossen zu besorgen, die ihm zur Not als Futter dienen müssen. Sie graben auch für sich ein paar Wurzeln aus. Während sie das Pferd besorgten, beichtet Parzivâl dann plötzlich seinem Gastgeber, dass er es war, der die Frage nicht stellte.

Da ruft Trevrizent aus: “Was sagst du, Neffe? Nun haben wir wirklich allen Grund, aus tiefstem Herzen zu klagen und zu trauern!” [488. 21-24] Dann berichtet er näheres von dem verhängnisvollen Tag der Begegnung, an dem Anfortas besonders litt. An dem Tag habe es eine seltene Planetenkonjunktion gegeben, die auf das Wetter und auf die Wunde eine äußerst kalte Einwirkung zeigte, welche auch den nicht der Jahreszeit entsprechenden Schnee in der drauffolgenden Nacht erklärt, in dem Parzivâl die drei Blutstropfen sah. An solchen Tagen habe man die Lanzenspitze, die die Wunde schlug, weil sie mit einem “heißen” Gift vergiftet war, homöopathisch wieder in die Wunde eingeführt, um die extreme Kälte herauszuziehen. (Das überaus harte Eis, das sich auf der Speerspitze formt, kann nur mit silbernen Spezialmessern weggeschnitten werden, welche der Zauberschmied Trebuchet gemacht hatte.) Dann tropft von der Speerspitze Blut, wie es Parzivâl erlebte.21

Trevrizent berichtet mehr über die Grâlsgesellschaft, z.B. warum die jungen Menschen da zum Grâl berufen werden. Verliert irgendwo ein Land seinen Landesherrn, wenn die Menschen aufrichtig sind und die Hand Gottes anerkennen, könnte ihnen aus der Grâlsgesellschaft ein neuer Fürst zugeteilt werden. Die Männer werden insgeheim fortgeschickt, die Frauen dagegen gehen öffentlich fort (wie z.B. Parzivâls Mutter Herzeloyde, die von Munsalvaesche hingeschickt wurde, um König Castis zu heiraten, der dann aber auf der Heimreise verstarb – nachdem er ihr die beiden Königreiche Wâleis und Norgâls vermachte – und sie als eine jungfräuliche Witwe hinterließ.) Die Kinder solcher Leute werden wiederum zum Grâl berufen, und so weiter und so fort.

Der Grâlkönig darf eine Frau haben, aber sie muss rein sein und mit ihm rechtmässig verheiratet. Diejenigen, die fortgeschickt werden, wie z.B. Herzeloyde, dürfen auch natürlich heiraten, doch die anderen – vermutlich weil sie jederzeit irgendwohin berufen werden könnten – müssen ledig bleiben. Sie dürfen sich besonders nicht an solchen kämpferischen Liebesabenteuern umd “minne” beteiligen, wie sie Gahmuret, Anfortas und Trevrizent betrieben, denn jetzt beichtet dieser, dass auch er sich früher an solchen wilden Kämpfen um Frauengunst beteiligt habe. Es war in dieser Zeit, wo er Parzivâls Vater kannte. Jetzt tut er als Einsieder für all das Buße.
Es gibt nun nur noch ein Paar Sachen zu klären, was in den restlichen fünfzehn Tagen geschieht, welche Parzivâl da in der Wildness bei Trevrizent verbringt. Sein Onkel fragt ihn bei Gelegenheit, wie er zu diesem Grâlpferd gekommen sei. Parzivâl fragt ihn seinerseits, wer den Grâl tragen darf. (Da wird er wohl nicht gut aufgepasst haben: auf Manuskriptseite 477 hatte es ihm Trevrizent schon gesagt, nämlich Repanse des schoye.) Eines Tages fragt Parzivâl, wer der Greis gewesen sei, den er dort in dem Vorraum in Munsalvaesche hat liegen sehen, dessen Haare grau waren, seine Haut dafür jugendfrisch. Das ist Tyturel22 gewesen, heißt es, der Grossvater von Parzivâls Mutter, der eine Krankheit hat namens pôgrât (wohl: Podagra, Gicht oder Zipperlein), eine unheilbare Lahmheit. Weil er den Grâl so oft sieht, kann er nie sterben.

An diesem, ihrem letzten gemeinsamen Tag warnt Trevrizent auch seinen Neffen, er soll Frauen und Priester immer ehren, denn sie führen beide keine Waffen in den Händen und Priester verkünden außerdem den Märtyrertod Christi, der die Verdammung des Menschengeschlechts annulliert. Dann spielt er selber die Rolle eines Laienpriesters und sagt zu Parzivâl:

gip mir dîn sünde her:
vor gote ich bin dîn wandels wer.
und leist als ich dir hân gesagt:
belîp des willen unverzagt. [502. 25-28]
{Gib deine Sünde nun mir! Ich bin vor Gott Bürge für deine Buße. Befolge alles, was ich dir gesagt habe, und halte unverzagt daran fest!}

Parzivâl reitet davon. In den Büchern X bis XIII handelt die Erzählung wieder in der Hauptsache um Gâwân, Parzivâls Kontrastfigur. Mit dieser weiteren Abzweifung bezweckt der Erzähler mindestens fünf Ziele:

• Parzivâl bleibt etwas länger im Hintergrund verborgen – obwohl sein Pfad immer wieder den von Gâwân überschneidet – damit er weiter reichlich Zeit hat, worin seine Buße glaubwürdig ausreifen soll.

• Gâwân soll sein eigenes Happyend erleben, denn er darf eine Frau gewinnen, die an Schönheit nur Condwîr amurs nachsteht (genau wie Papageno mit Papagena eine Parallele zu Tamino und Pamina bildet).

• Die gefangenen Frauen im verwünschten Zauberschloss Schastel marveile können befreit werden. Hier waren sie mehr als nur physisch von ihren Liebenden getrennt: sie sind auch geistig mit dem Bann eines mächtigen Zauberers namens Clinschor belegt, eines totunglücklichen Eunuchen, der die ganze Menschheit so unglücklich wissen will, wie er es selber ist. Seine Opfer haben bis zu ihrer Befreiung unter seinem Bann eine Art Tod im Leben erfahren, einen zeitlosen, surrealistischen Limbus, eine Art Vorhölle, von ihren eigenen Kindern und Geschwistern vergessen und vernachlässigt. Selbst unter sich können sie keine Gesellschaft bilden; im Schastel marveile bleibt jede für sich. (Wir haben dasselbe Phänomen früher bei Mozart im Namen und im Wesen von Monostatos gesehen.) Als Gâwân Clinschors grosse abtrennende Kraft überwinden und seinen disjunktiven Bann zerbrechen kann, kommen die Gefangenen quasi aus der Gruft der Isolation hervor (dasselbe haben wir bei Beethoven gesehen) und schließen sich ihren Familien wieder an. Sie knüpfen auch eheliche Bande miteinander nach dem Muster derer von Parzivâl, Gâwân und Artûs. Schastel marveile, der den negativen Gegenpol von Munsalvaesche darstellt – wo Familien und Paare aneinander gebunden werden – muss von seinem bösen Fluch befreit werden, bevor Anfortas geheilt und die Familie Adams erlöst werden können.

• Im Vorgriff auf die endgültige Erfüllung, welche Parzivâl und seiner erweiterten Familie im Tempel erwartet, spielt Gâwân für viele andere Personen im Gedicht die Rolle des Friedensstifters und des Heiratsvermittlers. All diese Menschen, quasi Mitglieder der Familie der Menschheit, wollen immer miteinander kämpfen, einander hassen und einander bis zum bitteren Ende einen Groll hegen. Gâwâns Kämpfen in diesem Abschnitt des Gedichts ist, paradoxerweise, eine Art Auflösung allen Kämpfens und hilft schließlich, allem Kämpfen ein Ende zu machen. (Allerdings verschwindet in diesem Gedicht die Gewalt erst nachdem Gâwân und Parzivâl sich aus Versehen den Kampf liefern und nachdem Parzivâl aus Versehen mit seinem Halbbruder Fierefîz streitet: ab dann merken alle, dass Kämpfen überhaupt immer mit einem Freund oder Bruder geschieht, obwohl wir das vielleicht im Moment nicht einsehen oder wissen.

• Gâwâns Abenteuer beschaffen auch die Voraussetzungen für die Wiederherstellung der Tafelrunde und für das anhaltende Bestreben des Königs Artûs, die brutalen Reste seiner säkularischen Gesellschaft zu zivilisieren. Diese war schon seit dem verhängnisvollen Besuch Cundrîes total desorganisiert. Die befreiten Frauen, darunter die Mutter und die Schwester von Artûs, wie auch seine beiden Nichten, welche auch Gâwâns Schwestern sind, stossen dann dazu und tragen zu dem Sinne bei, dass nun die ganze Menschheit wieder heil und friedvoll in Liebe zusammen ist, von der Gewalt des Bösen und von der Gewalt überhaupt befreit.

Am Anfang von Buch X ist ein Jahr ins Land gegangen und Gâwân sollte den Tjosttermin einhalten, doch inzwischen hat sich seine Unschuld am Morde des Königs Kingrisîn erwiesen und er ist aus weiterem Streit mit Landgraf Kingrimursel und König Vergulaht entlassen. Von seiner Beweislast befreit, kann sich Gâwân nun als Verhaltensmuster in seiner Rolle als Heilbringer und Friedensstifter fortsetzen: sein medizintechnisches Können als praktischer Herzchirurg rettet einem verwundeten Ritter namens Urjâns von Punturtoys das Leben, nachdem auch Gawân eine Dame sieht – in einer Szene, die ganz stark parallel steht zu Parzivâls Begegnung mit seiner Kusine, der ihr toter Freier auf dem Schoss liegt – welche ihrerseits einen sterbenden Ritter auf dem Schoss hält.

Urjâns ist allerdings ein sehr schlechter Kerl, der, sobald er auf den Beinen stehen kann, Gâwâns Pferd stiehlt. Es stellt sich heraus, er hat schon lange einen Groll gegen Gâwân gehegt, weil Artûs ihn einmal bestraft hat und Gâwân in der Sache Artûs beratend beistand. (Was Urjâns ironischerweise nicht wusste: es waren Gâwâns Argumente bei Artûr, die ihn damals vor der Todesstrafe errettet hatten.) Trotzdem reitet er mit Gâwâns Pferd Gringuljete davon, das – auch genau parallel zu Parzivâl – einmal einem templeis aus Munsalvaesche gehört hatte.

Gâwân wird eventuell sein geliebtes Reittier Gringuljete wiederbekommen können, doch dieses Abenteuer (bzw. dieser Klamauk) hat ihn nach Lôgroys geschlagen, zu einem Schloss, in der Nähe dessen er seine Zukünftige kennenlernt, die Schlossherrin Orgelûse de Lôgroys.

Bis wir später den wahren Grund für ihr seltsames Benehmen erfahren, scheint es auf den ersten Blick, dass ein Fluch, der auf Schloss und Ländern rings herum ruht – Gâwân erfährt auch davon erst später – auch die Schlossherrin in Mitleidenschaft zieht, denn diese schöne Frau behandelt Gâwân unverschämt unhöflich und grob. Dessenungeachtet ist er von ihrer Schönheit so hingerissen, dass er ihre Beleidigungen übersieht und einen Angriff auf sich ignoriert, den ein Begleiter von ihr unternimmt. (Dieser Ritter in ihren Diensten heißt Lischoys Gwelljus, Herzog von Gôwerzîn, der inzwischen das Pferd Gringuljete an sich genommen hatte, nachdem er den nichtswürdigen Kerl Urjâns geschlagen hatte! Er war es auch gewesen, der in einem früheren Kampf Urjâns lebensgefährlich verwundet hatte.)

Sein Pferd wieder in seinem Besitz, doch allerdings vorübergehend von der treulosen Orgelûse verlassen, fängt Gâwân an, sich ganz intensiv für das Schloss hier zu interessieren. Er fragt einen nahegelegenen Fährmann Plippalinôt und seine Tochter Bêne darüber aus, bei denen er eine Unterkunft bezieht. Nach und nach erfährt er mehr darüber. Für uns interessant ist, dass ein Roter Ritter am Vortage hier den Strom überquert habe, sagt der Fährmann, doch jener habe keine Fragen über das Schloss gestellt: dies wird wohl Parzivâl gewesen sein, der anscheinend immer noch keine erlösenden Fragen stellt. Es steht sowieso Gâwân zu, die Leute in diesem Schloss zu erlösen, denn es sind doch seine nächsten Verwandten. Parzivâl hat die Pflicht, seine Verwandten in Munsalvaesche zu erretten.

Noch eine Parallele zu der Parzivâlgeschichte zeigt sich sobald wir erfahren, dass Gâwâns neugefundene Liebe Orgelûse einen Knappen namens Malcrêatiure bei sich führt, einen monströs missgestalteten Burschen, der sich als Bruder der Cundrîe la surziere entpuppt. Er ist seiner Schwester auch wie aus dem Gesicht geschnitten, nur, seine Igelborsten sind viel kürzer. Die Erzählung bietet eine äußerst interessante Erklärung für die Entstehung solch hässlicher Geschwister: Adam, der von Gott Namen, Wesensart und Beschaffenheit aller Pflanzen und Tiere gelernt hatte, riet seine Töchter ab, als sie ein gebärfähiges Alter erreichten, von gewissen Kräutern zu essen, welche

die menschen fruht verkêrten
unt sîn geslähte unêrten [518. 19-20]
{die Nachkommenschaft verunstalten und so das Menschengeschlecht schänden}

Einige, die seinen Rat nicht berücksichtigten, gebaren solche hässlichen Menschen. Königin Secundille, der mit Parzivâls Halbbruder Feirefîz verheiratet war, hatte eine Anzahl solcher Leute in ihrem exotischen Reich. Als sie vom Grâl erfuhr, schickte sie diese beiden Kinder als Geschenk an Anfortas, der dann seinerseits Orgelûse den Knaben Malcrêatiure als Knappen schenkte.

Nachdem er am Anfang von Buch XI endlich vom Fährmann erfährt, dass dies hier Schastel marveil sei, die Zauberburg, im Terre marveile, Land des Wunders, wo das berühmte Lît marveile, das Wunderbett, stehe, bereitet sich Gâwân vor, die Damen zu befreien. Sein Gastgeber gibt ihm einen starken Schild und guten Rat auf den Weg: Er solle sein Pferd außerhalb der Burg lassen, bei einem Krämer, der dort Waren verkauft, und er solle sein Schwert und seinen Schild ja nicht aus den Händen legen, denn in seinem Kampf mit dem Wunderbett, wenn er nämlich meint, die Schrecknisse hätten ein Ende, dann beginne der Kampf erst recht!

Gâwân betritt die Burg, die Menschenleer zu sein scheint obwohl er früher hinter den Fenstern einzelne Frauengestalten erblickt hatte. In einer Kammer findet er das Wunderbett, das mit seinen vier Rädern aus runden blinkenden Rubinen auf dem glatten aus poliertem Jaspis, Chrysolith und Sardin gemachten Estrich blitzschnell hin- und herrollte. Auf diesem Estrich kann Gâwân kaum aufrechtstehen. Das Bett saust herum und will ihn gegen die Wand erdrücken, doch mit einem Sprung gelangt er aufs Bett selber, woraufhin es mit solcher Wucht gegen die Wand knallt, dass er fast betäubt wird. Zum Glück hatte er seinen Schild über sich gezogen, um sich vor dem Lärm der Aufschläge zu schützen, denn nun hält das Bett mitten im Zimmer an und ein Mechanismus aus 500 Schleudern bestehend prasselt einen Steinhagel auf ihn herab. Dann legt ein Mechanismus mit 500 oder mehr Armbrüsten los. Die Pfeilspitzen ragen zum Teil auch durch den Schild etwas durch und ritzen Gâwân trotz des Kettenhemdes auch viele kleinere Wunden. Dank Schild und Kettenhemd aber kann er überleben.

Dann betritt die Kammer ein kraftstrotzender, ungeschlachter Kerl in Fischotter- bzw. Haifischhaut gekleidet und mit einer riesigen Keule in der Hand. Als dieser aber merkt, dass Gâwân noch lebt, geht er wieder hinaus und schickt einen grimmigen Löwen hinein. Nachdem der Löwe seine Krallen in Gâwâns Schild senkte, haute ihm Gâwân Pranke und Vorderbein ab, die dann vom Schild baumeln. Das Löwenblut macht aber den Estrich weniger glatt und Gâwân kann der Bestie endlich mit einem Schwertstich in die Brust den Garaus machen.

An dieser Stelle ist der Zauberbann der Burg gelöst und die Damen kommen aus ihren einzelnen Verstecken hervor, um Gâwân wieder zu Kräften zu pflegen, denn er erlitt einen beträchtlichen Blutverlust. Königin Arnîve, die Mutter von Artûs (und demzufolge auch Gâwâns Grossmutter) übernimmt die Leitung der Pflege, obwohl man noch nicht weiß, dass es sich bei ihrem Erretter um Gâwân handelt.

In Buch XII, nachdem er sich von seiner Feuerprobe etwas erholt hatte, geht Gâwân ein bisschen in der Burg herum, um sich die anderen Wunder anzusehen. In einem hohen Turmgemach findet er eine Art strahlende Säule aus verschiedenen polierten Steinen, in der man all die Länder ringsherum bis zu sechs Meilen weit vergrössert sehen konnte. Wir erfahren, dass Clinschor diesen Zauberspiegel von Königin Secundille gestohlen hatte, der Frau von Parzivâls Halbruder. Plötzlich schaut Gâwân in dieser Art Fernrohr seine Geliebte, Orgelûse de Lôgroys, sich nahen, zusammen mit einem Ritter namens Flôrant von Itolac, ihr turkoyte (“türkischer Schütze?”). Obwohl immer noch sehr schwach auf den Beinen, rüstet sich Gâwân und holt sich sein Pferd beim Krämer vor dem Burgtor zurück. Er lässt sich von seinem Hausherrn übersetzen und besiegt auf der anderen Flussseite den turkoyte. Orgelûse verharrt auf ihren Beleidigungen, doch sie bittet ihn, sie nun zu begleiten, denn sie will, dass er ihr hilft, einen Kranz vom Ast eines gewissen Baumes holen zu gehen, der von einem mächtigen Ritter bewacht werde.

Dieses Geheimnis, und das Geheimnis ihres bösen Benehmens, beginnen sich aufzuklären, sobald wir erfahren, dass Orgelûse einmal früher mit einem Ritter namens Cidegast verheiratet war, der (mit seinen drei Gesellen) von König Gramoflanz getötet wurde, derjenige, der hier diesen besonderen Baum bewacht. Der Baum steht eben auf seinem Revier zentral. Egal wer ihm und seinem Baum zu nahe kommt, der wird von Gramoflanz reflexartig aufs bitterlichste angegriffen. Das Revier liegt auf der anderen Seite einer gefährichen, wilden Schlucht namens Li gweiz prelljûs. Gâwân versucht, mit seinem Pferd Gringuljete die Schlucht zu überspringen, doch beide fallen ins Wasser. Wie durch ein Wunder können sie aber auf der anderen Seite heil nach oben klettern.

Dort konfrontiert Gâwân diesen ungastfreundlichen König Gramoflanz, der aber in dem Moment unbewaffnet mit seinem Falken auf der Jagd ist. Er informiert Gâwân hochnäsig stolz, dass er sowieso nie mit nur einem Menschen streite; ihn interessiere prinzipiell nur der Kampf mit mindestens zwei Gegnern auf einmal, allerdings mit der Ausnahme eines Ritters namens Gâwân. Gramoflanz sei nämlich der Sohn von König Irôt, erzählt er weiter, der von Gâwâns Vater König Lôt von Norwaege (Norwegen) getötet worden sei. Allerdings wolle er sich in Gâwâns Schwester Itonjê verliebt haben, die in der verwünschten Burg gefangen gehalten werde. (Dieser noch unbekannte Ritter – Gâwân – soll ihr einen Ring als Liebeserklärung von Gramoflanz zurückbringen.)

Gâwân gibt sich zu erkennen, woraufhin Gramoflanz ihn zu einer Tjost auffordert. Allerdings soll das nicht etwa anonym geschehen: um seiner Ehre maximal Nutzen zu bringen, wird Gramoflanz nicht weniger als 1 500 Damen mitbringen. Artûs und seine ganzen Gefolgsleute, welche sich nur acht Tage entfernt in der Stadt Bems an der Korcâ aufhalten, werden eingeladen. Gâwân soll die 404 Frauen und alle Ritter mitbringen, die früher Clinschor dienten. Gâwân willigt dazu ein und überspringt die gefährliche Schlucht wieder, diesmal ohne hineinzustürzen, zu Orgelûse zurück, die auf ihn gewartet hatte.

Jetzt eröffnet sie ihm, ihr schlechtes Benehmen sei als Test seiner Loyalität gemeint gewesen, aber seine Treue habe sich nun wie Gold in der Feuersglut erprobt und sie wolle seine Braut werden. Auf dem Heimweg nach Lôgroys gibt sie unter Tränen bekannt, dass Anfortas ausgerechnet in ihrem Dienste verwundet wurde, denn sie hatte ihn für ihre Fehde gegen Gramoflanz rekrutiert (allerdings focht Anfortas in seinem schicksalschweren letzten Kampf nicht gegen Gramoflanz selber, sondern gegen einen heidnischen Helden). Anfortas (manchmal schreibt sich der Name Amfortas im Manuskript) habe ihr einen ganzen Laden exotischer Waren geschenkt (der genaue Laden, bei dessen Krämer Gâwân früher sein Pferd hinterließ), den sie nach Anfortas’ Verwundung Clinschor überließ, um seine Gunst zu erkaufen und das Schlimmste zu vermeiden:

dô der clâre Amfortas
minne und freude erwendet was,
der mir die gâbe sande,
dô forht ich die schande.
Clinschore ist staeteclîen bî
der list von nigrômanzî,
daz er mit zouber twingen kan
beidiu wîb unde man.
swas er werder diet gesiht,
dien laet er âne kumber niht. [617. 7-14]
{Seit der herrliche Anfortas, der mir diese Gabe sandte, Liebe und Glück verloren hatte, lebte ich in Furcht vor schmachvoller Demütigung, denn Clinschor übt die Kunst der Nigromantie und zwingt mit seiner Zauberkraft Frauen und Männern seinen Willen auf.}

Sie hatte ursprünglich gehofft, mit diesem Schatz Gramopflanz in eine Falle zu locken, doch der Plan gelang ihr nicht. Sie hatte auch allerhand andere List versucht, darunter ihre Hand dem anzubieten, der sie von Gramoflanz befreien sollte. Nur einer hatte ihr das ausgeschlagen, einer in roter Rüstung, der ihr erzählt habe, seine Frau sei noch schöner als sie. Dieser habe Parzivâl geheißen, erzählt sie weiter, und er sagte, mit dem Grâl habe er Sorgen genug.

Jetzt, wo sie der Burg nahekommen, bittet Gâwân sie, den Damen dort noch nicht seinen Namen preiszugeben, denn er möchte, dass die grosse Wiedervereinigung allen eine Überraschung sein sollte. Gâwân schickt einen Boten an Artûs. Dem Boten verbietet er streng, der Mutter von Artûs, Königin Arnîve, zu offenbaren, dass er zu Artûs geht. Er soll Artûs und seine ganzen Gefolgsleute einladen, ihnen aber ja nicht offenbaren, dass Gâwân Herr der Zauberburg geworden sei.

Gâwân spricht dann – ganz anonym – mit seiner Schwester Itonjê über ihre Liebe zum König Gramoflanz, welche über die Jahre unter der Fehde der Orgelûse gelitten hatte. Diese Fehde kommt nun zum Ende, denn Gâwân ist hier der grosse Friedensstifter und Heiratsvermittler an sich: er ruft ein grosses Festmahl aus, welches quasi sein eigenes Hochzeitsmahl sein sollte, zu dem alle Damen und Herren im Schloss eingeladen sind, einschließlich aller tapferen Ritter, welche Gâwân im Dienste der Orgelûse geschlagen hatte. Diese werden nun auch zu guter Letzt auf freien Fuss gesetzt (außer dem Pferdedieb Urjâns, der völlig aus der Erzählung verschwunden ist):

si mohten dô wol wirtschaft jehen.
ez was in selten ê geschehen,
den vrouwen unt der ritterschaft,
sît si Clinschores kraft
mit sînen listen überwant.
si wârn ein ander unbekant,
unt beslôz se doch ein porte,
daz si ze gegenworte
nie kômen, frouwen noch die man.
dô schuof mîn hêr Gâwân
daz diz volc ein ander sach;
dar an in liebe vil geschach. [637. 15-26]
{Es war ein wahrer Festschmaus, wie ihn die Damen und die Ritter nicht mehr kannten, seit Clinschors mächtige Zauberkunst sie in seine Gewalt gezwungen hatte. Obwohl alle in derselben Burg eingeschlossen waren, kannten Damen und Ritter einander nicht und hatten nie ein Wort gewechselt. Erst Herr Gâwân hatte es vermocht, dass sie einander kennenlernten, und alle waren herzlich froh darüber.}

Clinschors Fluch der Ehelosigkeit und der Einsamkeit ist nun in einem Freudentanz verbannt, denn Gâwân und Orgelûse feiern ihre Hochzeit. Gegen diesen Hintergrund der wiederhergestellten Gesellschaft und einer glücklichen Eheschließung spielt sich die volle Geschichte des unseligen Clinschors ab, denn Gâwân bittet sich nun von Königin Arnîve mehr Auskunft über jenen aus. Sie enthüllt, dass Clinschor hier nur eine kleine Filiale seines weltweiten Konzerns hatte:

hêrre, sîniu wunder hie
sint da engein cleiniu wunderlîn,
wider den starken wundern sîn
die er hât in manegen landen.
swer uns des giht zu schanden,
der wirbet niht wan sünde mite.
hêrre, ich sage iu sînen site:
der ist maneger diete worden sûr. [656. 6-13]
{Herr, die Wunderdinge hier sind gar nichts, gemessen an den gewaltigen Zauberwerken, die er in vielen andern Ländern errichtet hat. Wer uns dafür verachten wollte, dass wir in seine Gewalt gerieten, versündigt sich. Herr, ich will euch seine Wesensart schildern, die vielen Menschen Not gebracht hat.}

Herzog Clinschor von Câps (heute: Capua) pflegte ein verbotenes Liebesverhältnis mit Iblis, Gattin des Königs Ibert von Sicilje (Sizilien). Als der König sie im Schloss Kalot enbolot23 auf frischer Tat ertappte

er wart mit küneges henden
zwischen den beinen gemachet sleht.
des dûhte den wirt, ez waere sîn reht.
der besneit ihn an dem lîbe,
daz er deheinem wîbe
mac zu schimpfe nicht gevrumen. [657. 20-25]
{er wurde von königlichen Händen zwischen den Beinen glattgeschnitten, und der Burgherr hielt das noch für sein gutes Recht. Er beschnitt ihn am Leibe so gründlich, dass er mit keiner Frau mehr Kurzweil treiben kann.}

Clinschor begab sich nach Persidâ – nicht mit Persien zu verwechseln – wo die schwarze Magie erfunden worden sein soll, die er sich dann erwarb, um seine Verlust aufzuwiegen. Er ist so voller Groll über die erlittene Schmach, dass er alle Männer und Frauen verfolgt, und gelingt es ihm, ihr Glück zu zerstören, dann gehagt ihm das so recht von Herzen. Clinschor, diese Luziferfigur, hat auch Macht über alle bösen und guten Geister, die zwischen Himmel und Erde wohnen, es sei denn, sie stehen unter Gottes Schutz. [658]

Die aus seiner Macht Befreiten – Heiden und Christen – bitten nun Gâwân um Erlaubnis, zu ihren besorgten Liebenden in alle Himmelsrichtungen nach Hause zu kehren:

ir mugt uns freude machen hel,
daz wir freude füern in manegiu lant,
dâ nâch uns sorge wart erkant. [660. 8-10]
{ihr könnt unsere Freude so hell machen, dass wir Freude in manchem Land hinausjubeln und überall verkünden, wo man uns betrauert}

Gâwân verspricht ihnen, sie alle wieder glücklich zu machen, denn die grosse Wiederzusammenführung liegt vor der Tür: an eben demselben Tag kommt Artûs mit seinem Gefolge in Lôgroys an. Sie sind kampfmüde, denn sie wurden auf dem Weg angegriffen, und diese Kampfmüdigkeit wird langsam zum Schlusssymbol des Gedichts.

Gâwân inszeniert das ganze Wiederbegegnungstreffen genau, um die Spannung zu erhöhen. Endlich führt Gâwân Arnîve und ihren Sohn Artûs zusammen. Er gibt sich auch zu erkennen und wird mit seiner eigenen Mutter Sangîve und mit seinen beiden Schwestern Itonjê und Cundrîê24 wiedervereint. Aber eine Beschwerde hängt noch wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen, welche diese einsetzende Harmonie zu zerstören droht, nämlich der Kampf mit König Gramoflanz. Sollte ein Bruder mit dem Geliebten seiner Schwester kämpfen müssen?

Am Ende von Buch XIII, um sich auf die Ankunft von Gramoflanz vorzubereiten, und um festzustellen, ob er von seinen Wunden genug genesen sei, reitet Gâwân ein bisschen zum Training hinaus. Dort begegnet Gâwân einem unbekannten Ritter, der allerdings auch auf einem Grâlross aus Munsalvaesche zu Pferde sitzt und ganz in Rot bekleidet ist. Hier sagt uns der Erzähler: “an den rehten stam diz maere is komen” [678. 30] {diese Geschichte ist zu ihrem richtigen Stamm zurückgekommen}

Während seine Boten nach Gramoflanz suchen, liefert Gâwân diesem Roten Ritter den Kampf. Inzwischen kehren die Boten zurück und rufen seinen Namen aus, woraufhin der Fremde sein Schwert weit von sich wirft. Er jammert, dass er mit dem edlen Gâwân gefochten habe. Er gibt sich als Parzivâl zu erkennen und er betont, dass sie verwandt sind und nie zusammen hätten fechten dürfen.

Jetzt kommt König Gramoflanz mit seinem Heer an, aber der arme Gâwân ist durch seinen Kampf mit Parzivâl so mitgenommen, dass er sich seinem Herausforderer nicht sofort stellen kann. Parzivâl spürt dagegen keinerlei Müdigkeit und bietet sich als Gâwâns Stellvertreter an. Als Gâwân gegen diesen Plan Einspruch erhebt, reitet Parzivâl während der Nacht zu Gramoflanz’ Revier hin und bricht sich selber einen Kranz – statt vom Zaun bricht er einen Streit vom Baum – damit er am andern Morgen von sich aus Gramoflanz konfrontieren kann, selbst wenn Gâwân ihn immer noch nicht zum Stellvertreter haben möchte.

In der Frühe reitet dann Parzivâl gegen Gramoflanz aus. Als Gâwân etwas später dort erscheint, pfeift Gramoflanz sozusagen auf dem letzten Loch: von Parzivâl fast k.o. geschlagen wird er sich nie wieder brüsten, nur mit mehr als einem Gegner streiten zu wollen! Allerdings besteht dieser stolze Mann darauf, am nächsten Tag doch mit Gâwân zu kämpfen.

Aber dann wird der ganze gordische Knoten gelöst, nicht durch die Waffen der Männer sondern durch die Liebe, die Vernunft und die Diplomatie seitens der Frauen, mit Hilfe der beiden grossen Monarchen Artûs, Onkel eines der Kombattanten – Gâwân – und König Brandelidelîn, Onkel des anderen – Gramoflanz. Gâwâns schöne Schwester Itonjê versteht es, Gramoflanz zu erweichen und Orgelûse, deren Herz auch nun von der Liebe weich gemacht wurde, bittet Gâwân, um ihretwillen den Kampf aufzugeben. Hierauf zerging der Hass, den Gramoflanz jahrelang gegen König Lôt von Norwegen und seinen Sohn Gâwân gehegt hatte, “als in der sunnen snê” [728.15] {wie Schnee in der Sonne} und alle Parteien besiegeln die Versöhnung mit einem Kuss, Gramopfanz und Orgelûse, Gâwân und Gramoflanz.

Feierlich gibt Artûs die Hand seiner Nichte Itonjê König Gramoflanz zu rechtem ehelichem Bund, und viele andere Paare erhalten auch seinen königlichen Segen: noch andere, mit denen Gâwân einst kämpfen musste, heiraten sogar nun seine andere Schwester – Cundrîê wird Lischoys Gwelljus, Herzog von Gôwerzin (von dem Gâwân sein Pferd zurückbekam) gegeben – wie auch seine verwitwete Mutter Sangîve, die sich mit dem tapferen turkoyte Flôrant von Itolac vermählt, den Gâwân zum erstenmal damals im Zauberspiegel vom Turm aus hat heranreiten sehen.

Aber mitten in diesem Liebesmahl, wo alle anderen ihr Glück auskosten, kann Parzivâl nur noch an seine Frau Königin Condwîr âmûrs denken, diese schöne Blume, welche die Quelle seiner Inspiration ist in seiner Suche nach dem Grâl. Traurig reitet er im Morgengrauen allein davon. Obwohl eine grosse globale Versöhnung hier im Artûskreis ihren Anfang nahm, muss nun im Grâlkreis auch die grosse Versöhnung stattfinden. Die ersten Verse von Buch XV versprechen, dass der Erzähler den Schlüssel zu diesem versöhnenden Abenteur in seinem Munde hält, d.h. er wird uns nun erzählen, wie der gute, süsse Anfortas genas und wie Condwîr âmûrs, Königin von Pelrapeir

ih kiuschen wîplîchen sin
behielt unz an ir lônes stat,
in hôhe sælde trat [734. 12-14]
{ihr reines Frauenherz bewahrte, bis sie für diese Treue den Lohn erhielt, bis sie in die höchste Wonne, Erlösung und Glückseligkeit eintrat.}

Zuerst aber muss der Erzähler von Parzivâls Begegnung mit einem heidnischen Ritter berichten, einem unglaublich reichen Fremden, der neulich hier als Führer von nicht weniger als 25 Heerscharen an Land gegangen war – in einem nahegelegenen natürlichen Hafen ist seine Flotte vor Anker gegangen – denn ihm sind tatsächlich 25 Länder untertan, unterschiedliche Mohren und Sarazenen, jedes mit einer anderen Landessprache. Er und Parzivâl fangen an, miteinander zu kämpfen, obwohl der Erzähler sagt, er hätte sie gerne getrennt. Aber wenn sie unbedingt streiten wollen, sagt er, müsse er sie eben reiten und um Siegesruhm kämpfen lassen. Hoffentlich endet der Kampf nicht mit dem Tode eines von ihnen, fügt er hinzu, denn sie sind eigentlich nicht zwei, sondern eins:

man mac wol jehn, sus striten sie,
der se bêde nennen wil ze zwein.
si wârn doch bêde niht wan ein.
mîn bruodr und ich daz ist ein lîp,
als ist guot man unt des guot wîp. [740. 26-30]
{Man kann schon sagen, dass sich beide einen harten Kampf lieferten, wenn man in diesem Fall überhaupt von zwei Kämpfern sprechen will. Im Grunde waren sie nämlich eins und untrennbar; mein Bruder und ich sind ebenso untrennbar eins wie Mann und Frau.}

Der Dichter sagt, er wünsche, sie verstünden auch, dass sie eins seien, denn sie setzten in ihrem Kampf nichts weniger als “freude, sælde und êre” [742. 22] {Freude, ewige Seligkeit und Ehre} aufs Spiel. “Wer immer hier den Sieg erringt, hat alle Freuden dieser Welt verspielt und ewiges Herzeleid gewonnen.”

Sein Gegner stärkt im harten Kampf seinen eigenen Durchhaltewillen dadurch, dass er an seine Frau Secundille denkt. Als Parzivâls Kraft seinerseits zu verebben droht, denkt dieser an seine Zwillingssöhne, welche seine Frau empfing, als sie das letzte Mal in seinen Armen lag (wie er von der Geburt bzw. von den Namen dieser Kinder erfuhr, bleibt im Gedicht ein Geheimnis). Der Gedanke an Kardeiz und Loherangrîn stärkt ihn, denn er will nicht, dass sie zu Waisenkindern werden sollten. Das hier soll ein Symbol sein, heißt es im Gedicht, für die erlösende Rolle der Kinder in unserem Leben überhaupt:

mit rehter kiusche erworben kint,
ich waen diu smannes saelde sint. [743. 21-22]
{Kinder einer reinen Liebe sind meines Erachtens des Mannes höchstes Glück und höchste Erlösung}

Der Gedanke an seine Söhne und an ihre Mutter verlieht Parzivâl neue Schlagkraft und er versetzt dem Heiden furchtbare Hiebe als sein Schwert plötzlich in Stücke zerbricht, was ein Zeichen von Gott ist, denn “Gott wollte nicht, dass die Waffe, die Parzivâl in seiner Einfalt dem toten Ithêr geraubt hatte, ihrem Träger weiter diente.” [744. 12-18] (Das Schwert von Anfortas ist inzwischen auf unerklärliche Weise von dem Gedicht verschwunden.) Als er das zerbrochene Schwert sieht, sagt der Heide – auf Französisch, mit arabischem Akzent – dass der Kampf vorbei ist, es würde ihm keine Ehre bringen, einen Unbewaffneten zu töten. Dann schmeißt er als freundliche Geste sein eigenes Schwert weit von sich.

Sie setzen sich da erschöpft auf dem Gras zusammen hin. Obwohl der Verlierer eigentlich zuerst seinen Namen hätte preisgeben sollen, verweigert sich Parzivâl aus irgendeinem Grunde das zu tun. Also spricht der Fremdling seinen Namen zuerst aus: Er sei Feirefîz Anschevîn. Parzivâl fragt, wieso Anschevîn, denn das sei doch sein Titel. Die Bezeichnung Anschevîn habe er von seinem Vater ererbt. Es gibt nur noch einen Mann, der dieses Prädikat trägt, Parzivâls Bruder. Parzivâl bittet, des Gegners Gesicht sehen zu dürfen, denn sein Bruder habe Haut wie beschriebenes Pergament, schwarz und weiß zusammen. “der bin ich” [747.29] antwortet Feirefîz, seinen Helm abnehmend.

Jetzt erleben sie grosse Freude, einander endlich zu sehen und Feirefîz dankt seinen Göttern Jûnô und Jupiter. Ihre Rede schaltet von ir auf du um. Feirefîz muss leider erfahren, dass ihr beider Vater tot sei. Er beschenkt seinen Bruder mit zwei Königreichen und sie reiten dann zusammen zu Artûs und Gâwân zurück, welche von der Zauberburg soeben einen Bericht erhielten, dass die Tjost zwischen Parzivâl und Feirefîz im Zauberspiegel dort im Turm beobachtet worden sei. Der Kreis glücklicher Menschen dort um das runde Tischtuch auf der Wiese, mit ihren geliebten Verwandten wiedervereinigt, ist um noch ein glückliches Bruderpaar vermehrt.

Aber jetzt erscheint – déjà-vu! – niemand anders als Cundrîe la surziere, die Grâlsbotin, genau wie sie vor so vielen Jahren einer ähnlichen Versammlung um das runde Tischtuch auf einer blumigen Au am Fluss Plimizoel erschien. Wieder prachtvoll angezogen, sitzt sie diesmal auch auf einem herrlichen Reittier, mit Turteltauben dekoriert. Zuerst ist ihr Gesicht geschleiert. Als sie sich dann von Artûs die Erlaubnis erbittet, zu Parzivâl zu reden, nimmt sie die Schleier herunter und sagt ihre Botschaft mit grosser Würde heraus, worüber alle staunen:

ôwol dich, Gahmuretes suon!
got wil genâde an dir nu tuon.
ich mein den Herzeloyde bar...
zuo Parzivâle sprach sie dô
nu wis kiusche unt dâ bî vrô.
wol dich des hôhen teiles,
du krône menschen heiles!
daz epitafjum ist gelesen:
du solt des grâles hêrre wesen.
Condwîr âmûrs daz wîp dîn
und dîn sun Loherangrîn
sint beidiu mit dir dar benant. [781. 3-19]
{Heil dir, Gahmurets Sohn! Gott zeigt sich dir gnädig. Ich rede jetzt von Herzeloyes Sohn ... zu Parzivâl sagte sie dann: Nimm jetzt dein Herz in beide Hände und freue dich! Heil deiner hohen Bestimmung, du Krone menschlichen Glücks! Auf dem Stein war zu lesen, dass du zum Grâlsherrscher berufen bist. Auch deine Gattin Condwir amurs und dein Sohn Loherangrîn werden zum Grâl berufen}

Sie erklärt, dass der andere Zwillingssohn Kardeiz der weltliche Herrscher über Parzivâls Reiche werden sollte. Dann offenbart sie, dass Anfortas durch Parzivâls Frage endlich geheilt werden sollte:

dîn wârhafter munt
den werden unt den süezen
mit rede nu sol grüezen:
den künec Anfortas nu nert
dîns mundes vrâge, diu im wert
siufzebaeren jâmer grôz:
wâ wart an saelde ie dîn genôz? [ 781. 24-30]
{Dein Mund, der keine Lüge kennt, soll nun den edlen, liebenswürdigen Anfortas grüssen dürfen; deine Frage bringt ihm Genesung und erlöst ihn vom bejammernswerten, furchbaren Elend seiner Krankheit. Welcher Mensch wird soviel Seligkeit wie du genießen?}

Jetzt beschwört Cundrîe alle Planeten, mit ihren arabischen Namen und sagt Parzivâl:

swaz der plânêten reise
umblouft, ir schîn bedecket,
des sint dir zil gestecket
zu reichen und zerwerben...
du hetes junge sorge erzogn:
die hât kumendiu freude an dir betrogen.
du hâst der sêle ruowe erstriten
und des lîbes freude in sorge erbiten. [782. 18-30]
{Alles, was der Planeten Bahn umschließt und ihr Glanz überstrahlt, wirst du erringen und gewinnen... In deiner Jugend hat dich der Kummer begleitet, doch das Glück, das deiner wartet, vertreibt ihn ein für allemal. Du hast dir die Ruhe der Seele erkämpft und Trübsal getragen, bis dir im richtigen Leben die Freude nahte.}

Freudetränen fließen nun aus Parzivâls Augen, als er Cundrîe dankt und ihr für ihre frühere Verurteilung vergibt, deren Richtigkeit er aber nun zugibt: “Noch war ich nicht reif für das mir bestimmte Glück.” [783.15] Er bittet sie, ihm nun zu sagen, was er machen soll. Sie teilt ihm mit, er soll sofort nach Munsalvaesche aufbrechen und er darf einen Mann als Gesellen mitnehmen. Also bittet Parzivâl seinen Bruder mitzugehen während Cundrîe freudvoll die 404 Frauen begrüsst, um deren Befreiung sie bei ihrem letzten Besuch gefleht hatte. Feirefîz schreibt einen Brief an seine Heerscharen, welche bei den Schiffen warten, sie sollten seiner neugefundenen europäischen Familie reiche Geschenke austeilen, während er nach Munsalvaesche reitet.

Parzivâl hält vor der versammelten Menge eine Abschiedsrede (in französischer Sprache, weil das vielleicht die die einzige europäische Sprache ist, die sein Bruder versteht?), in der er über das, was Trevrizent ihm in der Eremitage mitgeteilt hatte, berichtet:

daz den grâl ze keinen zîten
niemen möcht erstrîten,
wan der von gote ist dar benant.
daz maere kom übr elliu lant,
kein strît möcht ihn erwerben:
vil liut liez dô verderben
nâch dem grâle gewerbes list;
dâ von er noch verborgen ist. [786. 5-12]
{Niemals könne ein Mensch den Grâl erkämpfen, der nicht von Gott zu ihm berufen sei. Die Nachricht, dass der Grâl durch Kampf nicht zu erringen sei, verbreitete sich über alle Länder, und viele Ritter wurden dadurch bewogen, ihre Suche nach dem Grâl aufzugeben, so dass er seitdem für immer verborgen ist.}

Nachdem Parzivâl, Feirefîz und Cundrîe wegreiten, kommen die versprochenen Gaben im Lager an und alle bekommen reichere Schätze geschenkt, die sie im Leben je gesehen. Das ist gewiss ein Symbol dafür – im Zusammenhang mit Parzivâls reichem Segen am Grâl geschrieben – dass die Söhne und Töchter Adams den äußersten Segen erst empfangen, wenn sie endlich als Geschwister miteinander in Frieden wohnen lernen.

Das letzte Buch des Gedichts, Buch XVI, beschreibt den immer noch leidenden Anfortas und seine treuen Anhänger. Er flehte oft darum, sterben zu dürfen, aber das ließen sie nicht zu. Er wird oft vor den Grâl getragen, um ihn am Leben zu erhalten, denn sie erwarteten das zweite Kommen des Mannes, dessen sorgenvolle Frage ihn heilen soll.

Seine Krankheit hatte, wie bei Parzivâls erstem Besuch, wieder einen Tiefpunkt erreicht – von einer neuen unglücklichen Planetenkonjunktion verursacht: Mars (Kriegsgott!) und Jupiter erreichten eine drohende Konstellation in ihrer Bahn – und Anfortas schreit gellend vor Schmerzen. Der üble Geruch der Wunde ist auch in solchen Zeiten besonders schlimm. Gewürze aller Arten streut man auf den Boden. Wenn diese zertreten werden, dann vertreibt ihr Duft den Geruch der Wunde. Ein Katalog der Edelsteine – genau eine Manuskriptseite lang – wird aufgeführt, deren geheime Heilkräfte Anfortas – leider umsonst – helfen sollten.

Aber nun nähert sich Parzivâl mit seinen beiden Gesellen Munsalvaesche. Allerdings begegnen sie einer verteidigenden Schar templeise, aber diese erkennen an Cundrîes Turteltauben, dass ihr Gram zu Ende geht. Feirefîz will sie anfangs angreifen, doch Cundrîe ergreift den Zaum seines Pferdes und berichtet ihm, diese stünden alle nun in Parzivâls Dienst. Alle sitzen ab, nehmen den Helm ab und begrüssen einander mit grosser Freude. Als sie dann zusammen nach Munsalvaesche reiten, vergießen sie Freudentränen.

Parzivâl weint immer noch, als er zu Anfortas geführt wird. Er kniet sich dreimal hin, in die Richtung des Grâls (nachdem er gefragt hat, wo der Grâl aufbewahrt wird) und betet um Gottes Hilfe, Anfortas’ Leiden zu lindern. Er steht auf und äußert endlich die schicksalsschweren Worte: “oeheim, waz wirret dier?” [795. 29] {Onkel, was fehlt dir?} Als Antwort auf sein Gebet:

der Lazarum bat ûf stên,
der selbe half daz Anfortas
wart gesunt unt wol genas. [796. 1-3]
{Gott, der dem Lazarus gebot, sich wiederaufzurichten, bewirkte nun auch, dass Anfortas genas und seine volle Gesundheit zurückerlangte.}

Währenddessen hatte man nach Condwîr âmûrs geschickt und sie reitet glückselig in Richtung Munsalvaesche, von ihrem Onkel Kyot von Katelangen – Vater von Parzivâls Kusine Sigûne – begleitet. Parzivâl geht ihr entgegen und soll sie genau dort antreffen, wo er die drei Blutstropfen im Schnee gesehen hatte. Unterwegs begrüsst er den alten Trevrizent, dessen Herz auch über die Nachricht von der Genesung seines Bruders Anfortas frohlockt.

Parzivâls Wiedersehen mit Condwîr âmûrs ist freudvoll, denn wenn die Blutstropfen damals ihm die Sinne beraubt hatten, so hatte er sie in ihr nun voll wiedergefunden. In der grossen Feier, die nun stattfindet, wird der Knabe Kardeiz als König aller seiner väterlichen Länder gekrönt und er schenkt als Lehnsgüter seine ganzen Gebiete an seine adligen Feudalherren. Dann geht er mit ihnen in sein Revier.

Die templeise begleiten Condwîr âmûrs und Loherangrîn dann auch nach Munsalvaesche, aber Parzivâl will einen kleinen Abstecher machen, um nach Sigûne zu schauen, die in der Klause bei ihrem toten Ritter wartet. Er findet sie auch dort noch betend an, doch ist sie schon gestorben, also legt Parzivâl sie unter grosser Sorgfalt und Liebe in den Sarg neben ihren Geliebten. Ihr Vater, Kyot, war früher weggeritten, also bleibt ihm das Leid um ihren Tod erspart.

Wenn alle wieder in Munsalvaesche sind, wird der Grâl herhorgebracht, diesmal aus Freude, wie er damals aus Leid hervorgebracht wurde. Wieder wird eine Wundermahlzeit serviert. Feirefîz kann allerdings den Grâl nicht sehen. Das kommt daher, erklärt der alte Tyturel, weil er ungetauft ist. Dessenungeachtet verliebt sich Feirefîz auf den ersten Blick in die Trägerin des Grâls, Repanse de schoye. Dieser Sohn Gahmurets, der schon im Morgenland die Herzen von drei Königinnen gewonnen hatte, gibt jetzt wegen seiner Liebe zu Parzivâls schöner Tante die Wanderschaft auf, aber zuerst muss er Christ werden.

In einer mikrokosmischen Lexion der ganzen Mär behauptet Feirefîz naiv, er sei bereit, sich diese Taufe, was das auch immer sei, durch Kämpfen zu erringen, wenn es sein muss, um die Hand der schönen Repanse zu gewinnen. Das wird ihm mit viel Lachen quittiert, denn wie wir in Hülle und Fülle gesehen haben, können weder Grâl noch Taufe noch wahre Liebe durch Streit gewonnen werden.

Am andern Tag im Grâltempel selber, wo der Grâl zu Hause ist, füllt der Grâl auf wunderbare Weise den Taufbecken mit Wasser auf, das weder zu kalt noch zu warm sei. Nach seiner Taufe kann Feirefîz dann den Grâl sehen, worauf die Schrift jetzt steht, in der es heißt, wer als templeis einem fremden Volk als König dient sollte es ihm verbieten, nach seinem Namen bzw. seinem Familiengeschlecht zu fragen. Das ist deshalb so, weil der arme Anfortas so lange auf die erlösende Frage hatte warten müssen und die Grâlleute von der Zeit an Fragen verabscheuen.

Feirefîz und Repanse de schoye machen sich nach einem seiner Reiche auf den Weg, nämlich nach Tibalibôt, das dort im Osten Indîâ (Indien) genannt wird. Bei seinen Schiffen angekommen, erfährt er von dem Tode seiner Königin Secundille, was seiner Ehe mit Repanse de schoye noch legitimer macht. In Tribalibôt haben sie später einen Sohn namens Jôhan, priester Jôhan25 genannt, eine legendäre Figur, der in ganz Indien das Christentum verbreitet haben soll (wie auch in Afrika, genauer: in Abysinnien, im heutigen Äthiopien). Feirefîz lässt in ganz Indien Schreiben aussenden, die das Christentum beschreibt, erzählt das Gedicht, denn es war dort vorher nicht so sehr bekannt.

Genau wie dieses Paar in die Welt hinausziehen, um dort den wahren Glauben zu verbreiten, wird Loherangrîn26 vom Grâl berufen, nach Brâbant zu ziehen um dort die Prinzessin zu heiraten. Er kommt bekanntlich in einem Schwanenboot dort an. Leider dauert ihr Glück nur kurz: die Prinzessin kann ihr Versprechen nicht einhalten, ihn nicht nach seinem Namen und Geschlecht zu fragen, also muss er am Ende nach Munsalvaesche zurück.

Jetzt sagt uns Wolfram von Eschenbach, seine Erzählung über Parzivâl und seine Kinder wie auch das Geschlecht seiner edlen Väter ist zu Ende, “dessen Lebensweg ich bis zum Zenit seines Glücks verfolgte”:

den ich hân brâht
dar sîn doch sælde het erdâht. [827. 17-18]

Wie wir aber schon längst begonnen haben zu merken, handelt sich diese Geschichte nicht nur um Parzivâl und sein Geschlecht sondern auch um das Geschlecht Adams. Dieses ist von der Zeit Kains an in Zorn und Brudermord verfallen, ihre Schönheit ist zum Teil von Konsum verbotener Kräuter korrumpiert, sie werden durch unheilbare Schäden in ihrer Fortpflanzung heimgesucht, weil sie die Liebe zu einer Art Kampfspiel reduziert haben, unauflösbar mit Kriegskunst und gewalttätigen Sportarten verwickelt, an denen sie sich zwanghaft beteiligen. Sie sind auch auf ewig von ihren wahren Liebenden und von ihren Familien – in denen sie sogar ihre Feinde wähnen – durch die Macht eines bösen Zauberers getrennt, der sie alle genauso an Impotenz und an Elend leiden sehen möchte, wie er es selber tut. Selbst die Auserwählten können fallen, sogar der Grâlkönig selber ist dem allem unterlegen, dessen unheilbare Wunde als Symbol für die Verwundung der ganzen Menschheit fungiert.

Das ultimative Heilmittel für Anfortas, wie für das Geschlecht Adams überhaupt, ist die Versöhnung des wahren minnaere, der alle Wunden heilen, den adamischen bzw. abrahamitischen Segen der unendlichen Fruchtbarkeit und des grenzenlosen Familienzuwachses wiederherstellen und die Menschheit zum Paradies erheben kann. Allerdings fehlt da ein unerlässliches Requisit: die Parzivâlfrage erfordert Empathie seitens der Menschen; sie erfordert, dass Sterbliche durch Mitgefühl selbst Christus-ähnlich werden, in imitatio Christi, als einfühlsame Stellvertreter des einfühlsamen Erlösers, als erlöste Erlöser.

Wenn dies eintritt, können die Mächte des Himmels wieder auf Erden wirklich wirksam werden, wie man schon allein am Grâl sieht, dessen Vorhandensein auf Erden selbst die säkulare Welt von König Artûs und seinem Neffen Gâwân – man denke auch an Grâlsboten wie Loherangrîn – ansäuert und positiv beeinflusst, welche mit ihren Gattinnen versuchen, das Benehmensniveau von Europäern zu heben, währenddessen andere wie Feirefîz und Repanse de schoye die frohe Botschaft über die Erlösung des Menschengeschlechts ihren Geschwistern in exotischeren Himmelsrichtungen verbreiten.

______________
Fußnoten:

1z.B. Helen Mustard und Charles E. Passage: “Wagners Parsifal, so herrlich sie als Musik sei, ist, als literarisches Werk, ein prätentiös moralisierendes Opernlibretto, ganz fremd dem Geiste des Werkes, das es zu dramatisieren vorgibt.” Parzival, A Romance of the Middle Ages (New York: Viking, 1961) S. xiv.

2vgl. Mustard und Passage, S. xivi.

3Vgl. Hugh Sacker, An Introduction to Wolfram’s ‘Parzivâl’ (Cambridge: Cambridge University Press, 1963), S. ix.

4Vgl. Herbert Kolb, Munsalvæsche. Studien zum Kyotproblem (München: Fink, 1963), S.179-180.

5ich bin Wolfram von Eschenbach ... ichne kan deheinen buochstap.” {Ich bin Wolfram von Eschenbach ... ich kann keinen einzigen Buchstaben} [114. 12, 115. 27].

6Das Gedicht zeigt z.B. eine Struktur, die genau auf 30 Zeilen basiert ist, die Länge einer Manuskriptseite. Wolfram benutzt auch räumliche Begriffe wie “oben” und “unten” in seinem Werk.

7Dem Epos nach wird ein Feind von Gahmuret heimlich das Blut eines Ziegenbocks auf seinen Helm gegossen haben. Ziegenbockblut soll, einem Bestiarum des 12. Jahrhunderts nach, ein extrem heißes Lösungsmittel gewesen sein, das selbst Diamanten habe erweichen können. Vgl. Mustard und Passage, S. 59, Fußnote.

8Vgl. Arthur Groos, Romancing the Grail. Genre, Science, and Quest in Wolfram’s Parzivâl, (Ithaca: Cornell University Press, 1995), S. 167, 187.

9Zitate entstammen der Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutschen Ausgabe von Wolfgang Spiewok (Stuttgart: Reclam, 1981). Zahlen in [ ] beziehen sich auf Manuskriptseiten, von Zeilenzahlen gefolgt. Übersetzungen in “ ” und in { } stammen in der Hauptsache von Wolfgang Spiewok.

10Zitiert von Kolb, S. 10, Fußnote.

11Wohl: Cumberland, eine englische, an Schottland grenzende Grafschaft.

12Französisch: conduire amours = Führerin der Liebe(nden)?

13wunsch bedeutet im Mittelhochdeutschen viel, viel mehr als im Neuhochdeutschen.

14Das wort saelden ist im Mittelhochdeutschen das Äquivalent zu Neuhochdeutsch: Seligkeit, ein Wort, das in unserer Studie sehr wichtig ist. Es ist ein Symbol für die celestiale Erlösung und auch für irdisches Glück. Im Rosenkavalier spielt es eine Hauptrolle.

15Diese faszinierenden Ortsnamen sind bei Wolfram Unikate. Sie spielen, meines Erachtens, auch eine Schlüsselrolle in der Interpretation des Gedichts und gehören deswegen besprochen werden. Es besteht kein Zweifel, dass das Präfix Mun- in Munsalvaesche mit dem Französischen mont (Berg) identisch ist, doch die Bedeutung von salvaesche war bis vor kurzem umstrittener. Einige Jahre lang schien die Bedeutung klar auf der Hand zu liegen: aus der lateinischen Wurzel salvatio (Erlösung, Heil, Rettung, vgl. Englisch: salvation), über Mittellatein salvagium und Altfranzösisch salvage bzw. salvaige, was so etwa die Bedeutung: Berg des Heils im Land des Heils ergibt.
Doch dann schlug Karl Bartsch 1875 vor, dass das alles stattdessen aus dem Mittellateinischen silvaticus und dem Französischen sauvage (wild) herleitet. Es stimmt schon, dass Wolfram einmal im Gedicht das Wort Wildenberc {Wildenberg} in Bezug auf die Grâlburg anwendet, und zwar dort, wo er die grossen Feuer in den Kaminen der Grâlburg beschreibt: “sô grôziu fiwer sît noch ê sach niemen hie ze Wildenberc” {Solch gewaltige Feuerbrände hat man selbst hier zu Wildenberg nie gesehen} [230.13] Und obwohl hier Wolfram zwei Burgen ironisch vergleicht, eine himmlische mit viel Brennholz einerseits und eine irdische andererseits – wo er sich im Moment auch wohl aufhielt – deren Gäste es vielleicht gar nicht so warm hatten, öffnete Bartsch damit der patriotischen Theorie Tür und Tor, dass Wolfram mit Munsalvaesche eigentlich Wildenberg meinte. Es trifft sich nun, dass es unter den Hunderten Wildenbergs in Deutschland eine gibt, die nur sechs Kilometer südwestlich von Ober-Eschenbach liegt. Und obwohl sie heute Wehlenberg heißt, war man damals begeistert, denn 1917 wollte man die Stadt in Wolframs-Eschenbach umtaufen und es passte dem Touristenbüro, dass auch in der Nähe die Grâlburg selber zu besichtigen sei!

Jedenfalls wurde diese Idee im Laufe der Zeit widerlegt, und zwar am gründlichsten und am überzeugendsten von Herbert Kolb in seinem Buch: Munsalvaesche. Studien zum Kyotproblem (München: Fink, 1963), besonders S. 98-141. Günter Ebersold – Wildenberg und Munsalvaesche (Frankfurt: Peter Lang, 1988) – behauptet auch sehr überzeugend, dass Munsalvaesche in der Tat: Berg der Erlösung, des Heils, bedeutet.

Es gibt noch zwei verwandte Ortzbezeichnungen – Fontâne la salvâtsche und Brumbâne de Salvâsche – welche trotz der augenfälligen Abweichungen von Munsalvaesche und Terre de Salvaesche offensichtlich von salvatio stammen und Heil bedeuten, denn jene Bezeichnung bezieht sich auf eine heilige Quelle im Terre de Salvaesche, deren Wasser in den See fließt, auf dem das Boot des Fischerkönigs schwamm. Die zweite Bezeichnung, Brumbâne de Salvâsche, bezieht sich auf den heiligen See selber.

16Eigentlich gibt es fünf Geschwister, wie wir nachher erfahren: den Einsiedler Trevrizent, den verwundeten Grâlkönig Anfortas, die Königin Repanse de schoye (die einzige, die den Grâl tragen darf), Sigûnes Mutter Schoysîâne und Parzivâls Mutter Herzeloyde. (Warum sagt Sigûne vier und erwähnt nur zwei davon beim Namen?) Anscheinend will sie Parzivâl noch nicht offenbaren, dass seine Mutter zum Grâl gehört, denn sein Mitgefühl – in der noch nicht gestellten Frage nach dem Wohergehen des verwundeten Königs versinnbildlicht – sollte auch Fremden gelten, nicht nur seinen nahen Verwandten.

17Die Wiederherstellung eines zerbrochenen Schwertes kann als Symbol für die Wiederherstellung eines Menschenlebens aufgefasst werden, das auch von einem Meister erschaffen wurde. Durch Sünde zerbrochen kann ein Mensch auch durch das heilige Wasser der Taufe permanent neugemacht werden.

18Vgl. A.T. Hattos kreuzförmige Strukturschema der Bücher im Gedicht (Parzivâl, S. 426):

7
4 8 12
1 2 3 5 9 13 15 16
6 10 14
11


19Es liegt auf der Hand, dieses Wort mit ‘Tempelherr’ zu übersetzen, und es wurde oft auf dem Weg des geringsten Widerstandes so gemacht, aber dagegen sprechen zwei schlagkräftige Hauptargumente:
1) Wolframs Grâlsritter mit ihren Turteltauben auf dem Wappen haben mit den historischen Tempelherren mit den roten Kreuzen auf dem Waffenrock wenig gemeinsam. Die Tempelherren waren ein Kreuzfahrerorden mit Hauptsitz in Jerusalem auf dem Tempelberg, Standort vom Tempel Salomos. Sie haben dann in den grossen europäischen Städten Tempel errichtet, wo ihr Reichtum – das sie ursprünglich angesammelt haben, um Pilger und Kreuzfahrer zu unterstützen – sie nach und nach zu Bankiers machte. (Ein Stadtteil Londons mit vielen Banken heißt z.B. immer noch Temple.) Ihr finanzieller Erfolg führte dann zu Eifersucht bei den Mächtigen und einige, z.B. König Philipp IV (Philipp der Schöne) von Frankreich sperrten sie ein und folterten sie bis sie falschen Vorwürfen der Ketzerei geständig wurden. Pabst Clement V schaffte 1312 den Orden ab. Ihr Grossmeister Jacques de Molay wurde 1314 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Schon um 1200, als Wolfram an seinem Gedicht schrieb, waren die Tempelherren umstritten genug, dass es höchts unwahrscheinlich ist, er wollte sein Werk mit ihnen in Verbindung bringen.
2) Rein sprachlich gesehen scheint der Ausdruck tempeleis eine Neumünzung Wolframs zu sein. (Es ist ganz anders als das Wort Tempelherr und seine Wurzeln: Altfranzösisch templier, Latein templarii. In Mittelhochdeutsch würden diese Wurzeln das Wort tempelaere ergeben.) tempeleis bedeutet dagegen: ‘einer, der dem Tempel gehört’ in Anlehnung an kurteis, ‘einer der dem Hof angehört’ d.h. einer, der sich höflich benimmt, als wohnte er am Hof statt am Bauernhof. Herbert Kolb behauptet, diese beiden Eigenschaftswörter grenzen das säkular-weltliche Reich von Artûs’ Hof einerseits und den geistigen Bereich des Grâltempels andererseits ab. Vgl. sein Buch: Munsalvaesche. Studien zum Kyotproblem (München: Fink, 1963) besonders S. 64-70.

20Dieses scheint ein etwas korrumpierter lateinischer Ausdruck zu sein, welcher bedeuten könnte: “der Stein aus dem Himmel”, bzw. “es fiel vom Himmel”, bzw. “ein Stein, vom Himmel gefallen.” Der Begriff lapis elixir klingt vielleicht auch darin nach, der als Stein des Weisen bekannt wurde, anhand dessen man früher aus unedelem Metall Gold habe machen wollen.

21Es bleibt etwas unklar, ob der Speer, den Parzivâl um den Saal hat herumtragen sehen, diese Lanzenspitze (vermutlich mit einem neuen Schaft) führt, oder ob es sich um eine andere Lanze handelt, z.B. um die legendenhafte Lanze des Longinus – während der Kreuzzüge in Antioch entdeckt – welche Christus am Kreuz eine Wunde schlug, aus der Blut und Wassen flossen. (Vgl. Johannesevangelium 19:34)

22Dreimal wird im Manuskript der Name Titurel mit -i- und dreimal mit -y- geschrieben.

23Heute: Caltabellotta (vom Arabischen der Sarazenen: Qal’at al-ballut = Festung der Eichen) in Sizilien. Vgl. Mustard und Passage S. 656, Fußnote.

24(nicht mit Cundrîe la surziere zu verwechseln: Gâwâns Schwester schreibt sich mit -ê.)

25Auch Priesterkönig Johannes bzw. Presbyter Johannes genannt, soll priester Jôhan übrigens in Indien eine legendäre Burg besessen haben, worin Zauberspiegel aus Karfunkelsteinen wie der in Schastel marveile standen.

26Dies ist natürlich die Geschichte, auf die Richard Wagner seine Oper Lohengrin von 1848 basiert.