Samstag, 20. November 2010

Kapitel Fünf

Kapitel Fünf

Erfüllung oder Enttäuschung?
Die Neugestaltung der Parzivâlsage
in Richard Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal

Wir wollen uns jetzt Richard Wagners Musikdrama Parsifal zuwenden, welches mit Wolframs Parzivâl verglichen die Kürze selber zu sein scheint. (Allerdings dauert eine Vorstellung von diesem “Bühnenweihfestspiel”– mit dem Wagner seine neue Bühne in Bayreuth einweihen wollte – fünf volle Stunden!) Es ist ja logisch: Wagner hatte keine Wahl, er musste irgendwie das mythische und symbolische Gefüge von Wolframs gigantischem Epos für seine Oper stark kürzen, was viele Wolframgelehrte trotzdem veranlasst hat, sein Libretto verächtlich von der Hand zu weisen. Und obwohl ich auch gewisse wichtige Aspekte des Urquells bei Wagner vermisse (besonders z.B. dass Parsifal unverheiratet bleibt), muss ich in aller Fairness zugeben, dass seine Vereinfachungen oft konsequent und logisch sind. In einiger Hinsicht hat er sogar den Symbolismus der Sage erhöht.

Noch wichtiger scheint mir, dass Wagner die Verlust des grossen epischen Schwungs durch den grossen Schwung seiner herrlichen Musik weitgehend wettmacht. Solche Musik öffnet meines Erachtens für den Parzivâlstoff endgültig Herz, Seele und Sinn der Menschen. Es ist aber nun vielleicht ratsam, wenn wir uns dem Werk selbst zuwenden: erst nach einer kurzen Übersicht der Handlung und der Personen des Musikdramas werden wir urteilen können, inwiefern es Wagner als Vermittler unserer supernalen Themen gelingt oder misslingt.

Ein sehr auffälliger Unterschied zwischen beiden Werken sticht am Anfang der Oper sofort ins Auge, nämlich dass Parzivâl bei Wolfram zwei Lehrer hatte: Gurnemanz als weltlichen und Trevrizent als geistigen. Bei Wagner gibt es nur einen Lehrer für Parsifal, nämlich Gurnemanz, der, als der Vorhang aufgeht, in der Ferne den kranken Amfortas (bei Wagner immer mit -m- geschrieben) auf einer Tragbahre liegend sieht, die ihn in der Nähe der Gralburg Monsalvat zum Bade im heiligen See befördert. Gurnemanz lädt die Knappen ein, die mit ihm am See wachen, gemeinsam ihr Morgengebet zu verrichten. Dann ruft er den Rittern, welche Amfortas hertragen, eine Frage zu: wie es dem König heute denn so gehe, und ob das Heilkraut, das Gawan ihm neulich gebracht, geholfen hätte?

Die Schmerzen seien zehrender zurückgekehrt, antworten sie, was den leidenden, schlaflosen König Amfortas veranlasst habe, heute sein Bad besonders früh zu verlangen. Traurig gibt Gurnemanz zu, dass ihre Hoffnung vergebens war:

Toren wir, auf Lindrung da zu hoffen,
wo einzig Heilung lindert!
Nach allen Kräutern, allen Tränken forscht
und jagt weit durch die Welt:
ihm hilft nur eines –
nur der Eine. [12]1

Plötzlich sieht man eine wilde Reiterin sich nahen. Es ist Kundry, in einem Gürtel von Schlangenhäuten gekleidet, mit flatterndem schwarzem Haar und tief braun-rötlicher Gesichtsfarbe zu ihren stechenden schwarzen Augen. Ihre erschöpfte Mähre taumelt zu Boden. Kundry schwingt sich herab und dringt Gurnemanz ein kleines Kristallgefäss auf: “Hier! Nimm du! – Balsam ...” stammelt sie, von ihrem langen Ritt erschöpft. “Woher brachtest du dies?” [12] fragt Gurnemanz. Sie erwidert:

Von weiter her, als du denken kannst.
Hilft der Balsam nicht,
Arabia birgt
dann nichts mehr zu seinem Heil. [13]

Als Amfortas dann näher herangetragen wird, ruft der König nach Gawan. Einer der Ritter sagt ihm, Gawan sei wieder auf die Suche nach einem neuen Linderungsmittel ausgeritten, weil das Heilkraut, welches er neulich brachte, unwirksam war. Der König ärgert sich, dass Gawan ohne Urlaub fortgeritten ist. Er ist sehr besorgt, dass Gawan vielleicht in die Schlingen Klingsors fallen könnte. (Damit ist die ganze Rollenbesetzung nach nur ein paar Minuten komplett – mit Ausnahme von Parsifal – und die Handlung so minimal wie logisch gehalten.)

Der König versucht, sich an etwas zu erinnern. Wie lautete die Profezeiung noch?

‘Durch Mitleid wissend’ –
war’s nicht so?

fragt er Gurnemanz, welcher erwidert:

Uns sagtest du es so.
‘Der reine Tor!’ [14]

Diese Profezeiung wird bald erklärt werden. Inzwischen reicht Gurnemanz dem König Amfortas das Kristallgefäss der Kundry hin, welche am Boden liegen bleibt. Amfortas sagt ihr, er werde den Balsam versuchen, aus Dankbarkeit für ihre Treue. Dann wird er zum Bad im See abgetragen.

Nachdem der König weggetragen wurde, fragt einer der Knappen Kundry barsch, warum sie da wie ein wildes Tier auf dem Boden liege. “Sind die Tiere hier nicht heilig?” wirft sie ihm zurück. “Ja; doch ob heilig du, das wissen wir grad noch nicht” [14] erwidert er. Noch einer der Knappen ist der Meinung, ihr Balsam könne dem König eher schaden als helfen. Gurnemanz verteidigt Kundry gegen diese Knaben, welche das Gefühl haben, Kundry trage ihnen irgendeinen Groll nach, denn ein dritter Knappe sagt: “Doch hasst sie uns. – Sieh nur, wie hämisch dort nach uns sie blickt!” [15] Gurnemanz erinnert sie daran, dass Kundry immer die erste war, welche Botschaften überführt und sonstige gefährliche Aufgaben im Auftrage von den Gralrittern ausführt.

Die Knappen bestehen auf ihrem Verdacht: “Eine Heidin ist’s, ein Zauberweib” [15] behauptet ein vierter. Gurnemanz räumt ein, dass sie vielleicht eine Verwünschte sei, welche für Schuld aus früherem Leben büßen muss, die ihr dort nicht vergeben wurde. Vielleicht ist es sogar ihre Schuld, die uns jetzt plagt, schlägt der dritte Knappe vor. Dieser Vorwurf stimmt Gurnemanz nachdenklich. Ja, überlegt er sich, sooft sie uns lange fernbleibt, bricht ein Unglück über uns herein. Nachher findet man sie immer im Waldgestrüpp schlafend, erstarrt, leblos, wie tot. (Im Orchester ertönt das Leitmotiv des Zauberers Klingsor, das uns auch übermittelt, was gerade bei Gurnemanz allmählich dämmert, nämlich dass Kundry in der Macht Klingsors liegen könnte.) Durch dieses Kribblen neugierig geworden, fragt Gurnemanz nun Kundry selber, wo sie damals umherschweifte, als der König sein Speer verlor. Sie schweigt mürrisch.

Einer der Knappen erwidert spöttisch: wenn sie so hilfreich ist wie Gurnemanz sagt, warum schickt man sie nicht nach dem verlorenen Speer? “Das ist ein andres: jedem ist’s verwehrt.” erwidert Gurnemanz dunkel. Dann kehrt die Erinnerung an jenen fatalen Tag bei Gurnemanz so lebhaft zurück, dass er aus dem Präteritum zum Präsens übergeht, während er den Knappen den Vorgang erzählt. Dieweil verflechten sich in der Musik die Motive von Klingsohrs Zauber, von dem heiligen Speer und von Amfortas’ Leiden:

O, wunden-wundervoller
heiliger Speer!
Dich sah ich schwingen
von unheiligster Hand! –
(In Erinnerung sich verlierend.)
Mit ihm bewehrt, Amfortas, allzukühner,
wer mochte dir es wehren
den Zaubrer zu beheeren? –
Schon nah dem Schloss wird uns der Held entrückt:
ein furchtbar schönes Weib hat ihn entzückt:
in seinen Armen liegt er trunken,
der Speer ist ihm entsunken. –
Ein Todesschrei! – Ich stürm herbei:
von dannen Klingsor lachend schwand,
den heil’gen Speer hatt’ er entwandt.
Des Königs Flucht gab kämpfend ich Geleite;
doch eine Wunde brannt’ ihm in der Seite:
die Wunde ist’s, die nie sich schließen will. [16]

Andere Knappen kommen vom See zurück und berichten, dass Balsam und Bad vorerst dem König Linderung gebracht hätten, aber Gurnemanz wiederholt die letzte Zeile: “die Wunde ist’s, die nie sich schließen will.” Da bitten ihn die Knappen, da er Klingsor kannte, ihnen die Geschichte von diesem Klingsor zu erzählen. Also fährt Gurnemanz in seiner Exposition fort, unter Musik mit dem Leitmotiv von Klingsor und Kundry (ein weiteres Zeichen dafür, dass auch sie eines von Klingsors Opfern aber vielleicht auch irgendwie mit Klingsor im Bunde sei):

Titurel, der fromme Held,
der kannt’ ihn wohl.
Denn ihm, da wilder Feinde List und Macht
des reinen Glaubens Reich bedrohten,
ihm neigten sich in heilig ernster Nacht
dereinst des Heilands selige Boten:
daraus der trank beim letzten Liebesmahle,
das Weihgefäß, die heilig edle Schale,
darein am Kreuz sein göttlich Blut auch floss,
dazu den Lanzenspeer, der dies vergoss –
der Zeugengüter höchstes Wundergut –
das gaben sie in unsres Königs Hut.
Dem Heiltum baute er das Heiligtum.
Die seinem Dienst ihr zugesindet
auf Pfaden, die kein Sünder findet,
ihr wisst, daß nur dem Reinen
vergönnt ist, sich zu einen
den Brüdern, die zu höchsten Rettungswerken
des Grales Wunderkräfte stärken.
Drum blieb es dem, nach dem ihr fragt, verwehrt,
Klingsorn, wie hart ihn Müh’ auch drob beschwert.
Jenseits im Tale war er eingesiedelt;
darüberhin liegt üpp’ges Heidenland:
unkund blieb mir, was dorten er gesündigt;
doch wollt’ er büßen nun, ja heilig werden.
Ohnmächtig, in sich selbst die Sünde zu ertöten,
an sich legt’ er die Frevlerhand
die nun, dem Grale zugewandt,
verachtungsvoll des’ Hüter von sich stieß.
Darob die Wut nun Klingsorn unterwies,
wie seines schmähl’chen Opfers Tat
ihm gäbe zu bösem Zauber Rat;
den fand er nun. –
Die Wüste schuf er sich zum Wonnegarten,
drin wachsen teuflisch holde Frauen;
dort will des Grales Ritter er erwarten
zu böser Lust und Höllengrauen:
wen er verlockt, hat er erworben;
schon viele hat er uns verdorben.
Da Titurel, in hohen Alters Mühen,
dem Sohn die Herrschaft hier verliehen:
Amfortas ließ es da nicht ruhn,
der Zauberplag’ Einhalt zu tun.
Das wisst ihr, wie es da sich fand:
der Speer ist nun in Klingsors Hand;
kann er selbst Heilige mit dem verwunden,
den Gral auch wähnt er fest schon uns entwunden. [17-18]

Dadurch verstehen die Knappen, dass das Speer unbedingt zurückgebracht werden muss, koste es, was es wolle. Die Knappen sehen ein, dass dem Mann, der es zurückbringt, Ehre und Ruhm zustehen. Gurnemanz erzählt seine Geschichte zu Ende und so hören wie endlich von der Profezeihung, die Amfortas früher erwähnte:

Vor dem verwaisten Heiligtum
in brünst’gem Beten lag Amfortas,
ein Rettungszeichen bang erflehend:
ein sel’ger Schimmer da entfloss dem Grale, (leise)
ein heilig Traumgesicht
nun deutlich zu ihm spricht
(immer leiser)
durch hell erschauter Wortezeichen Male:
(Sehr leise.)
‘Durch Mitleid wissend
der reine Tor;
harre sein
den ich erkor.’ [18]

Kaum sind diese Worte von Gurnemanz gesprochen und von den Knappen im schönen, ehrfurchtsvollem Chor wiederholt worden, als da unten am See sich irgend ein Aufruhr und Tumult ergibt. Ein verwundeter wilder Schwan flattert matt zu Boden, ein Pfeil in der Brust. Der König hatte den Schwan über den See kreisen sehen und das als gutes Zeichen aufgefasst, doch dann flog ein Pfeil auf den Vogel. Jetzt führen die Ritter und Knappen den Frevler (der später als Parsifal identifiziert wird) auf die Bühne, einen Bogen in der Hand, mit Pfeilen im Köcher, welche identisch sind mit dem Pfeil in der Schwanenbrust. Ironischerweise ist dieser junge Frevler der reine Tor dieser Profezeiung, wenn das aber im Augenblick niemandem bewusst ist.

Gurnemanz schilt Parsifal ob seiner rücksichtslosen Tat. Während das Gralmotiv zu hören ist, macht er ihn darauf aufmerksam, dass hier im heiligen Wald im Gralgebiet die Tiere zahm sind und die Menschen freundlich und rein grüssen. Ob er nicht den Gesang der Vögel von den Bäumen gehört hätte? Was hatte ihm dieser treue Schwan je getan? Er kreiste ja bloss über dem See, sein Weibchen zu suchen:

Dem stauntest du nicht? Dich lockt’ es nur
zu wild kindischem Bogengeschoss?
Er war uns hold: was ist er nun dir?
Hier – schau her! – hier trafst du ihn,
da starrt noch das Blut, matt hängen die Flügel,
das Schneegefieder dunkel befleckt –
gebrochen das Aug’, siehst du den Blick? [20]

Da spürt Parsifal in seiner Brust die ersten Regungen Mitleids – durch Mitleid soll dieser reine Tor ja der Gralprofezeihung nach wissend gemacht werden – und er zerbricht Bogen und Pfeile und schmeißt sie weit von sich. Er habe nicht gewusst, dass sowas eine Sünde sei. Auf alle anderen Fragen reagiert er gleich: er wisse nicht, wer sein Vater war oder wie er selber heiße. Da versucht Gurnemanz es anders: “Nichts weißt du, was ich dich frage: jetzt meld, was du weißt, denn etwas musst du doch wissen.” [21] Parsifal erwidert, er habe eine Mutter, sie heiße Herzeleide, sie seien im Wald und auf wilder Aue zuhause. Den Bogen habe er sich selber geschnitzt.

Inzwischen wird der tote Schwan auf einer Tragbahre fortgeschafft – der Parallelismus zwischen der Tötung eines Schwans und der Verwundung von Amfortas liegt auf der Hand – und dabei hört man das Schwanmotiv in der Musik, welches eigentlich aus Wagners Oper Lohengrin stammt, der Geschichte von Parzivâls Sohn, der in einem Schwanenboot nach Brabant kommt.

Jetzt meldet sich Kundry, welche die ganze Zeit am Boden lag zu Wort. Sie gibt Auskunft über Parsifals Ursprünge, obwohl sie erst im zweiten Aufzug seinen Namen nennt:

Den Vaterlosen gebar die Mutter
als im Kampf erschlagen Gamuret;
vor gleichem frühen Heldentod
den Sohn zu wahren, waffenfremd
in Öden erzog sie ihn zum Toren – die Törin! [21]

Parsifal bestätigt dies und fügt dazu:

Ja! Und einst am Waldessaume vorbei,
auf schönen Tieren sitzend,
kamen glänzende Männer;
ihnen wollt’ ich gleichen:
sie lachten und jagten davon.
Nun lief ich nach, doch konnt’ ich sie nicht erreichen.
Durch Wildnisse kam ich, bergauf, talab;
oft ward es Nacht, dann wieder Tag:
mein Bogen musste mir frommen
gegen Wild und grosse Männer... [21-22]

Kundry sagt weiter aus, der Knabe sei bei bösen Männern sehr gefürchtet, woraufhin Parsifal sie fragt, was das sei: böse und gut. Sie erwidert, diejenigen, die ihn angegriffen hatten seien die Bösen gewesen, aber seine Mutter sei gut. Da fügt sie auch hinzu, dass sein Mutter gestorben sei, Kundry sei eben in dem Moment dort vorbeigeritten. Seine Mutter habe sie gebeten, Parsifal ihren Gruss zu bringen. Daraufhin gerät Parsifal wieder in Zorn und will sie erdrosseln. “Wieder Gewalt?” [22] fragt ihn Gurnemanz, der ihn zurückhält. Kundry lüge nie, versichert er.

Kundry vergilt Schlechtes mit Gutem: sie geht zu naheliegenden Quelle und schöpft ihm etwas Wasser. Als sie sich ihm nähert, besprengt sie ihm kühlendes Wasser ins Gesicht und reicht ihm dann zum Trinken. Ja, so ist’s recht, sagt Gurnemanz, so will es der Gral. Kundry winkt ab: sie tue nie Gutes, sie wolle nur ruhen, hier im Waldgebüsch schlafen. Sie solle keiner wecken.

Inzwischen wurde es Mittag und der König kehrt vom Bade heim. Gurnemanz legt seinen Arm um Parsifal und geht mit ihm zur Burg. Er verspricht ihm, wenn er rein ist, wird der Gral ihn speisen und tränken. Wer ist der Gral? fragt Parsifal, der ihn für irgendeinen Menschen hält. Gurnemanz erwidert:

Das sagt sich nicht;
doch bist du selbst zu ihm erkoren,
bleibt dir die Kunde unverloren. –
Und sieh!
Mich dünkt, dass ich dich recht erkannt:
kein Weg führt zu ihm durch das Land,
und niemand könnte ihn beschreiten,
den der nicht selber möcht’ geleiten. [23]

Parsifal kommt es vor, als wäre er weit gegangen obwohl er kaum schreitet. Gurnemanz erklärt es ihm so: “Du siehst, mein Sohn, zum Raum hier wird die Zeit.” [24] Als sich die Szene vor ihren Augen von Wald zur Gralsburg verwandelt, sagt Gurnemanz weiter:

Nun achte wohl und laß mich sehn:
bist du ein Tor und rein,
welch Wissen dir auch mag beschieden sein. – [24]

Alle versammeln sich im grossen Saal zum Mittagsmahl. Chöre von Rittern und Knappen singen eine eucharistische Hymne vor drei Etagen der Burg. Zuerst singen die tieferen Stimmen der Ritter – Bässe und Tenöre – vom Parterre aus:

Zum letzten Liebesmahle
gerüstet Tag für Tag,
gleich ob zum letzten Mahle
es heut uns letzen mag,
wer guter Tat sich freut,
ihm wird das Mahl erneut:
der Labung darf er nahn,
die hehrste Gab’ empfahn.

Dann, von oben, vom untersten Teil der Kuppel, stimmen Tenöre und Kontratenöre im Falsett an:

Den sündigen Welten,
mit tausend Schmerzen,
wie einst sein Blut geflossen –
dem Erlösungshelden
sei nun mit freudigem Herzen
mein Blut vergossen.
Der Leib, den er zur Sühn’ uns bot,
er lebt in uns durch seinen Tod.

Endlich dann, ganz oben in der Kuppel, singen die höchsten Sopran- und Altstimmen der Knappen:

Der Glaube lebt;
die Taube schwebt,
des Heilands holder Bote.
Der für euch fließt,
des Weines genießt
und nehmt vom Lebensbrote! [24-25]

Nachdem alle verstummen, hört man aus einer gewölbten Nische hinter dem Bett von Amfortas die Stimme des alten Titurel (bei Wagner nicht der Grossvater sondern der Vater von Amfortas). Er liegt da quasi im Grab und bittet Amfortas, den Gral zu enthüllen, damit er nicht sterbe. Amfortas will aber selber sterben und den Gral unenthüllt lassen. Es gehe Amfortas weniger um seine körperlichen Schmerzen als um seine Reue, denn sein Amt war, die Segnungen des Grals auf andere zu erbeten, und gerade er ist gefallen. Seine Sünde ist sogar für Christus eine Strafe, der voller Gnade ist, und zu dem Amfortas kommen muss, um Heil zu erlangen:

Oh, Strafe, Strafe ohnegleichen
des – ach! – gekränkten Gnadenreichen! –
Nach ihm, nach seinem Weihegruße
muß sehnlich mich’s verlangen;
aus tiefster Seele Heilesbuße
zu ihm muss ich gelangen. – [26]

Als ein Lichtstrahl sich auf den Gral senkt, fällt dessen Hülle weg und der göttliche Gehalt des Grals glüht mit leuchtender Gewalt. Amfortas spürt dann das Blut Christi in sein Herz überfließen, sein eigenes sündiges Blut in die Flucht schlagen, bis es am Ende doch wieder zurückfließt und aus der Wunde dringt, die mit derselben Waffe geschlagen wurde, mit der Christus am Kreuz verwundet wurde. Amfortas ruft eine herzenzerreißende Bitte nach Gnade aus und sinkt dann wie unbewusst auf seinem Bett wieder zurück:

Erbarmen! Erbarmen!
Du Allerbarmer! Ach, Erbarmen!
Nimm mir mein Erbe,
schließe die Wunde,
dass heilig ich sterbe,
rein Dir gesunde! [27]

Die Knappen und Ritter erinnern ihn an die Profezeihung und sie und Titurel mahnen ihn, sich zu trösten und die Verheißung abzuwarten:

‘Durch Mitleid wissend
der reine Tor;
harre sein
den ich erkor.’
So ward es dir verkündet:
harre getrost;
des Amtes walte heut!
Enhüllet den Gral! [27]

Jetzt hört man Stimmen aus der Höhe singend:

Nehmet hin meinen Leib,
nehmet hin mein Blut
um unsrer Liebe willen!
Nehmet hin mein Blut,
nehmet hin meinen Leib,
auf dass ihr mein gedenkt.

Darauf dringt ein blendender Lichtstrahl von oben auf die Kristallschale des Grals herab. Er glüht dann in leuchtender Purpurfarbe, alles sanft bestrahlend. Amfortas erhebt den Gral mit verklärter Miene hoch und schwenkt ihn sanft nach allen Seiten. Alles fällt in die Knie. Als das Licht entweicht, wird der Gral wieder in seinen Schrein gelegt. Dann wird Brod und Wein verteilt während die Stimmen von oben nach unten und wieder ganz nach oben wieder ertönen:

Wein und Brot des letzten Mahles
wandelt’ einst der Herr des Grales
durch des Mitleids Liebesmacht
in das Blut, das er vergoss,
in den Leib, den dar er bracht’.

Blut und Leib der heil’gen Gabe
wandelt heut zu eurer Labe
sel’ger Tröstung Liebesgeist
in den Wein, der euch nun floss,
in das Brot, das heut ihr speist.

Nehmet vom Brot,
wandelt es kühn
in Leibes Kraft und Stärke;
treu bis zum Tod;
fest jedem Mühn,
zu wirken des Heilands Werke.
Nehmet vom Wein,
wandelt ihn neu
zu Lebens feurigem Blute,
froh im Verein,
brudergetreu
zu kämpfen mit seligem Mute.

Selig im Glauben!
Selig in Lieb’ und Glauben!

Selig in Liebe!

Selig im Glauben! [28-29]

Die Ritter erheben sich und umarmen einander, aber Amfortas, der nicht am Mahl teilnahm, blutet aufs Neue, wie von ihm vorausgesagt. Man trägt ihn und den Gral aus dem Saal. Parsifal hatte sich krampfhaft am Herzen gehalten und steht nun stille. Gurnemanz ist enttäuscht und zornig mit ihm, weil er die Frage nicht tat und nennt ihn, genau wie bei Wolfram, eine Gans:

Du bist eben doch nur ein Tor!
Dort hinaus, deinem Wege zu!
Doch rät dir Gurnemanz:
lass du hier künftig die Schwäne in Ruh
und suche dir, Gänser, die Gans! [30]


Der zweite Aufzug spielt in Klingsors Zauberschloss, von verzauberten Rittern und ihren Freundinnen, den verzauberten Blumenmädchen, verteidigt. Mitten unter nekromantischen Vorrichtungen steht ein Zauberspiegel, in dem der Zauberer Parsifal von Weitem kommen sieht. Er handelt schnell, zündet Räucherwerk an und schwört Kundry aus einem Abgrund unter dem Schloss herauf:

Herauf! Herauf! Zu mir!
Dein Meister ruft dich Namenlose,
Urteufelin, Höllenrose!
Herodias2 warst du, und was noch?
Gundryggia dort, Kundry hier:
Hieher! Hieher denn! Kundry!
Dein Meister ruft: herauf! [31]

Schlafend, steigt Kundry aus der Tiefe. Als sie erwacht und ihr nach und nach gewahr wird, wo sie sich befindet, entfährt ihr ein furchtbarer Schrei. Klingsor verrät, dass er sie mit einem Fluch belegt hat, nach welchem er die Kraft besitzt, sie immer wieder zu sich zu holen, auch wenn sie am Gralschloss war, um für ihren bösen Dienst bei Klingsor Buße zu tun bzw. im fast vegetativen Zustand dort im Wald zu schlafen, wie sie es am Anfang vom ersten Aufzug tat. Er hat Macht über sie bekommen, eben weil sie über ihn als Eunuchen mit ihren weiblichen Reizen keine Macht hat. (Bei Wagner soll Klingsor sich selber kastriert haben, im Unterschied zu Wolframs Clinschor.) Kundry ist, wie Klingsor sie hier nennt, das Negativ-Ewig-Weibliche, die Urverführerin, die Ur-Mutter-Eva, welche durch Äonen verflucht ist, ihre Sünde zu wiederholen, die aber auch die ganze Zeit selber nach Erlösung sucht.

Als sie wie befohlen Parsifal verführen sollte, lernen wir über den selbstverschuldeten Fluch mehr, der auf ihr ruht. Sie erzählt Parsifal, dass sie in einer ihrer Inkarnationen Christus ausgelacht habe, als sie ihn sein Kreuz durch die via dolorosa habe tragen sehen, und dass sein trauriger Blick sie strafend traf. Die Erinnerung daran stellt für sie ein unabwendbarer Fluch dar:

Seit Ewigkeiten – harre ich deiner,
des Heilands, ach! so spät!
Den einst ich kühn geschmäht. –
Oh!
Kenntest du den Fluch,
der mich durch Schlaf und Wachen,
durch Tod und Leben,
Pein und Lachen,
zu neuem Leiden neu gestählt,
endlos durch das Dasein quält!
Ich sah – ihn – ihn –
und – lachte...
da traf mich sein Blick. –
Nun such ich ihn von Welt zu Welt,
ihm wieder zu begegnen.
In höchster Not
wähn ich sein Auge schon nah,
den Blick schon auf mir ruhn.
Da kehrt mir das verfluchte Lachen wieder,
ein Sünder sinkt mir in die Arme!
Da lach ich – lache –
kann nicht weinen,
nur schreien, wüten,
toben, rasen
in stets erneuerter Wahnsinns Nacht,
aus der ich büßend kaum erwacht. [45-46]

Erlösung suchend, doch immer nur Elend verbreitend, ist es Kundry gewesen, wie wir weiter erfahren, in ihrer Gestaltung als Verführerin, welche Amfortas verleitete, als er damals zu Klingsors Burg kam. (In ihrer Gestaltung als grob angekleidete Büßerin wird Amfortas sie wohl nicht wiedererkennen, denn er nimmt von ihr z.B. das Balsam dankbar an.) Wenn sie mal nicht unter der Macht Klingsors steht, reitet sie als Büßerin durch die halbe Welt, sogar nach Arabien, um ein Heilmittel zu finden, welches das Unheil wiedergutmachen könnte, die sie selber angerichtet hat. (Heute würde ein Psychiater bei ihr wohl eine dissoziative Identitätsstörung bzw. Persönlichkeitsspaltung bzw. einen Doppengängerwahn feststellen!)

Kundry schickt die albernen Blumenmädchen weg – Parsifal hatte sowieso alle ihre Freunde in die Flucht geschlagen – und ruft Parsifal beim Namen (wir hören an dieser Stelle das Wort Parsifal zum ersten Mal in der Oper) was in ihm ferne Erinnerungen an seine Mutter wachruft, die ihn einmal so nannte, als sie im Traume vor sich hin murmelte. Kundry offenbart ihm weiter, dass der sterbende Gamuret – an sein ungeborenes Kind denkend – dort in dem arabischen Land die Worte “Fal parsi” ausgesprochen hätte, was soviel heiße wie: “tör’ger Reiner”. Die Umkehrung der Silben ergebe Parsifal: “reiner Tor”. Kundry erzählt wieder von dem Tode seiner Mutter, was Parsifal mit einem Gefühl seiner eigenen Torheit und Schuld erfüllt.

Dann küsst ihn Kundry, woraufhin Parsifal sich wieder an die Brust greift, genau wie er dies damals bei Amfortas in der Gralburg getan hatte. Ihm wird dieser Augenblick wieder klar und so lebendig vor Augen geführt, dass er (im Präsens!) ausrufen muss:

Amfortas! – –
Die Wunde! – Die Wunde! –
Sie brennt in meinem Herzen. –
Oh, Klage! Klage!
Furchtbare Klage!
Aus tiefstem Herzen schreit sie mir auf.
Oh! – Oh! –
Elender! Jammervollster!
Die Wunde sah ich bluten: –
nun blutet sie in mir! –
Hier – hier!
Nein! Nein! Nicht die Wunde ist es.
Fließe ihr Blut in Strömen dahin!
Hier! Hier im Herzen der Brand!
Das Sehnen, das furchtbare Sehnen,
das alle Sinne mir faßt und zwingt!
Oh! – Qual der Liebe! –
Wie alles schauert, bebt und zuckt
in sündigem Verlangen! ...
Es starrt der Blick dumpf auf das Heilsgefäß:
das heilge Blut erglüht;
Erlösungswonne, göttlich mild,
durchzittert weithin alle Seelen;
nur hier, im Herzen, will die Qual nicht weichen.
Des Heilands Klage da vernehm ich,
die Klage, ach! die Klage
um das entweihte Heiligtum:
‘Erlöse, rette mich
aus schuldbefleckten Händen!’
So rief die Gottesklage
furchtbar laut mir in die Seele.
Und ich – der Tor, der Feige,
zu wilden Knabentaten floh ich hin!
Erlöser! Heiland! Herr der Huld!
Wie büß ich Sünder meine Schuld? [43-44]

Wir verstehen wie Parsifal einfühsam durch Mitleid mit Amfortas erfährt – als wäre er Amfortas selber – genau wie die Kraft der Minne bzw. Liebe Amfortas verwundet hatte. Darum kann er die Schmerzen so unmittelbar am eigenen Leibe spüren. Er sieht jetzt ein, wie unmittelbar der Erlöser in seinem Herzen für die Sünden der Menschen und für den unerlösten Gral leidet. Parsifal versteht, warum sein Herz ihm damals schmerzte.

Das neugewonnene Mitleid mit anderen und die Demut, die von dem Bewusstsein seiner eigenen Schuld und dem Bedarf nach Erlösung selber herrührt, schützen Parsifal vor Kundrys weiteren Verlockungen, als sie ihm z.B. sagt, wenn ein Kuss ihn so welthellsichtig machte, er solle sich vorstellen, was ihr volles Liebesumfangen vermöge:

So war es mein Kuss,
der welthellsichtig dich machte?
Mein volles Liebesumfangen
lässt dich dann Gottheit erlangen! [46, 47]

Das ist natürlich einerseits ein symbolischer Hinweis auf die Worte Satans im Garten Eden (I. Mose, Kapitel 3, Verse 4-5): “Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet mitnichten des Todes sterben; sondern Gott weiß, dass, welches Tages ihr davon esst, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.” Andererseits ist das auch eine Inversion bzw. eine Perversion von unserem Thema Gottwerdung, bzw. Vergottung bzw. Apotheose. Jedenfalls fällt Parsifal nicht darauf ein, sondern er sagt Kundry, er soll auch ihr die Erlösung Christi vermitteln, wenn sie ihm den Weg zu Amfortas zurückzeigt. Sie besteht aber auf ihr perverses Vorhaben:

Lass mich dich Göttlichen lieben,
Erlösung gabst du dann auch mir. [47]

Weil er sie verschmäht, beschwört sie Klingors Kraft herauf, damit er nie wieder zum Gral zurückfindet:

Wehrt ihm die Wege!
Wehrt ihm die Pfade!
Und flöhest du von hier und fändest
alle Wege der Welt,
den Weg, den du suchst,
des Pfade sollst du nicht finden:
denn Pfad’ und Wege,
die dich mir entführen,
so verwünsch ich sie dir! [48]

Ihr Rufen bring Klingsor selber auf die Szene, der mit dem entwendeten heiligen Speer diesen Frevler verwunden will, doch als er den Speer auf Parsifal schleudert, bleibt jener wie durch ein Wunder über dessen Haupt schweben. Parsifal ergreift ihn mit der Hand und hält ihn in der Form eines Kreuzes über seinem Haupt in die Höhe:

Mit diesem Zeichen bann ich deinen Zauber:
wie die Wunde er schließe,
die mit ihm du schlugest,
in Trauer und Trümmer
stürz’ er die trügende Pracht! [48]

Das Schloss versinkt wie durch ein Erdbeben. Der Lustgarten ist schnell zu einer Einöde verdorrt, die verzauberten Blumenmädchen als verwelkte Blumen auf dem Boden verstreut. Parsifal ruft Kundry zu: “Du weißt, wo du mich wiederfinden kannst!”[48] und der Vorhang fällt.

Im dritten Aufzug sind viele Jahre vergangen. Gurnemanz, nun ein hochbetagter Greis, ist Einsiedler geworden. Er hört ein Stöhnen aus einer Dornenhecke in der Nähe: es ist Kundry, die schon lange dort liegt, vermutlich den ganzen Winter durch. Er trägt ihren kalten, starren anscheinend leblosen Körper auf einen nahliegenden Hügel und sagt ihr, sie solle aufstehen, der Lenz sei da. Es stellt sich heraus, dass Gurnemanz – wie Titurel vor ihm – sie oft so aufgefunden und gepflegt hat. Als sie allmählich zu sich kommt, stösst sie einen Schrei aus. Dann stammelt sie rauh und abgebrochen: “Dienen ... Dienen!” [50]

Sie ist wie im ersten Aufzug rauh angezogen – mit Ausnahme von den Schlangenhäuten, die nun mit ihrer Rolle als Verführerin wegfallen – nur scheint sie Gurnemanz irgendwie ruhiger. Das liegt vielleicht daran, dass heute ein heiliger Tag ist, nämlich der Karfreitag:

Wie anders schreitet sie als sonst!
Wirkte dies der heilige Tag?
Oh! Tag der Gnade ohnegleichen!
Gewiss zu ihrem Heile
durft’ich der Armen heut
den Todesschlaf verscheuchen. [50]

Kundry ist in die Hütte dort gegangen und hat nun einen Krug, mit dem sie zur Quelle geht. Von dort aus sieht sie jemanden kommen und winkt Gurnemanz zu. Es kann keiner der Gralsritter sein, denkt er bei sich, denn dieser hier trägt eine schwarze Waffenrüstung. Gurnemanz grüsst den stummen Fremden und sagt ihm, er soll an dieser heiligen Quelle besonders an diesem heiligen Tag keine Rüstung geschweige denn Waffen tragen. Der Gast stösst den Speer (die Spitze nach oben) vor sich in den Boden, nimmt die Rüstung herunter und kniet in stummem Gebet vor der Lanze nieder, dessen Spitze er besonders andachtsvoll anblickt.

Gurnemanz flüstert der Kundry zu, dass dies der Mann sei, der damals den Schwan erlegte, der Narr, den er zornig vertrieb. Dann erkennt er plötzlich auch diesen Speer wieder. Jetzt grüsst ihn auch Parsifal, der nach so vielen Jahren wieder an diesen heiligen Ort gelangt ist.

Gurnemanz offenbart Parsifal, seit er wegging habe Amfortas sich verweigert, den Gral zu enthüllen. Die Ritter müssten im Wald wie wilde Tiere ihre Atzung selber finden. Ohne den Segen des Grals ist Titurel auch inzwischen gestorben.

Parsifal leidet intensiv unter dieser Nachricht, denn er weiß, dass er an ihrem weiteren Leiden nach seinem Besuch hier schuldig ist. Kundry versucht ihn mit Wasser zu besprengen, wie sie es im ersten Aufzug getan hatte, aber Gurnemanz hält sie davon ab, denn er verspürt, dass ein grosses Werk seinen Anfang nimmt. Stattdessen führen sie Parsifal zur Quelle selber:

Nicht so!
Die heil’ge Quelle selbst
erquicke unsres Pilgers Bad.
Mir ahnt, ein hohes Werk
hab’ er noch heut zu wirken,
zu walten eines heil’gen Amtes:
so sei er fleckenrein,
und langer Irrfahrt Staub
soll nun von ihm gewaschen sein. [55]

Kundry wäscht ihm die Füsse (man denkt dabei an die Sünderin, die Jesus die Füsse wusch)3 und dann wäscht ihm Gurnemanz das Haupt und sagt: “Gesegnet sei, du Reiner, durch das Reine!” [55] Kundry nimmt ein goldenes Fläschchen aus ihrem Busen und gießt seinen Inhalt auf Parsifals Füsse aus und dann trocknet sie seine Füsse mit ihren Haaren. Parsifal nimmt ihr das Fläschchen sanft ab und reicht es Gurnemanz:

Du salbtest mir die Füße,
das Haupt nun salbe Titurels Genoß,
daß heute noch als König er mich grüße. [56]

Parsifal verrichtet sein erstes Amt indem er Kundry zur Vergebung der Sünden tauft und ihr sagt, sie soll an den Erlöser glauben. Sie beugt sich zur Erde und scheint heftig zu weinen. Dann bemerkt Parsifal, wie schön alles in der Natur ist, schöner noch als die Zauberblumen, die er einmal sah. Es ist Karfreitagszauber, erzählt ihm Gurnemanz. Obwohl an diesem Tag die Schöpfung eigentlich hätte traurig sein sollen, sei dies nicht so, sondern alle Kreatur freue sich. Sogar die Tränen der reuigen Sünder beträufelten Flur und Au und außerdem schone der Mensch heute das Gras und die Blumen mit seinem sanftem Schritt und zertrete nicht die Natur wie sonst. Jetzt sieht Parsifal, dass Kundry weinen kann, deren Fluch es war, immer zur falschen Zeit zu lachen und nie weinen zu dürfen: “Auch deine Träne ward zum Segenstaue: du weinest – sieh! es lacht die Aue.” [57]

In der Ferne hört man Glocken: es ist wieder Mittag und Gurnemanz führt Parsifal wieder zur Gralburg. Die Kulisse ändert sich zauberhaft von Wald zu Fels zu Schlosssaal. Dort tragen zwei Chöre trauriger Ritter die Tragbahre mit Amfortas und den Sarg mit Titurel in den Saal hinein, wo sie hoffen, Amfortas zu überreden, den Gral ein letztes Mal zu enthüllen. Ihr antiphonischer Wechselgesang zerfällt in Katzenmusik, in Kakophonie.

Amfortas schlägt ihnen ihre Bitte aus, denn er will unbedingt sterben um nicht so weiterleben zu müssen. Er fleht seine Ritter an, seine Schwerter in seinen Leib zu tauchen. An dieser Stelle tritt Parsifal hervor, berührt die Wunde mit der Lanzenspitze und sagt:

Nur eine Waffe taugt: –
die Wunde schließt
der Speer nur, der sie schlug.
Sei heil, entsündigt und entsühnt,
denn ich verwalte nun dein Amt.
Gesegnet sei dein Leiden,
das Mitleids höchste Kraft
und reinsten Wissens Macht
dem zagen Toren gab.
Den hei’gen Speer –
ich bring ihn euch zurück! [60,61]

Als die Speerspitze jetzt rot wird, ruft Parsifal aus:

Oh! Welchen Wunders höchstes Glück! –
Der deine Wunde durfte schließen,
ihm seh ich heil’ges Blut entfließen
in Sehnsucht nach dem verwandten Quelle,
der dort fließt in des Grales Welle!
Nicht soll der mehr verschlossen sein:
Enthüllet den Gral, öffnet den Schrein! [61]

Parsifal besteigt die Stufen zum Weihtisch, kniet sich und entnimmt den Gral dem geöffneten Schrein. Als der Gral leicht zu glühen beginnt, hört man wieder von ganz unten, aus der Mitte und ganz unten die Stimmen der Sänger in einem Schlusschor der Dankbarkeit wieder:

Höchsten Heiles Wunder!
Erlösung dem Erlöser! [61]

Ein Lichtstrahl aus der Höhe verursacht im Gral ein helles Erglühen. Aus der Kuppel schwebt eine weiße Taube herab und verweilt über Parsifals Haupt. Kundry sinkt entseelt vor Parsifal zu Boden, ihre sterbenden Blicke dankbar auf ihn gerichtet. Parsifal hält den glühenden Gral in die Höhe und schwenkt ihn segnend über die anbetende Ritterschaft. Als der Vorhang fällt, schwillt die Musik zum erhabensten Höhepunkt empor.

Jetzt sind wir besser positioniert, die Unterschiede zwischen Wolframs Parzivâl und Wagners Parsifal zusammenzufassen: Bei Wolfram ist z.B. der Gral ein Stein, kein Kelch wie bei Wagner. Dieser Kelch soll eben derjenige gewesen sein, mit dem man Christi Blut aufgefangen haben soll, nachdem er schon beim letzten Abendmahl am Tisch als Trinkgefäß Verwendung fand. Hier greift Wagner auf eine viel spätere, allerdings auch weiter verbreitete Version der Grallegende zurück, die heutzutage u.a. durch den Indiana-Jones-Film fast zur Klischee geworden ist. Man sieht aber schon ein, dass Wagner dadurch den Gral mit Christus leichter und unmittelbarer verknüpfen kann, als es bei Wolfram der Fall war, der den Luxus hatte, dieses subtiler und auf breiterer Palette machen zu können.

Aus ähnlichen Gründen wird Wagner die Legende der heiligen Lanze gebraucht haben, denn der Speer bei Wolfram hat aller Wahrscheinlichkeit nach nichts mit dem Speer zu tun, der Christus am Kreuz eine Wunde schlug und im Volksmund den Speer des Longinus oder Speer von Antiochien4 genannt wird, denn diese Legenden sind meistens aus späteren Zeiten.

Wagners Kundry ist eine Zusammensetzung aus hässlicher Gralsbotin einerseits – wie Cundrîe bei Wolfram – welche sehr besorgt ist, für Anfortas ein Heilmittel zu finden und aus Femme fatale – verhängnisvoller Frau – andererseits, einer Verführerin unter der Macht Klingsors, welche Amfortas ins Verderben stürzt. In der zweiten Rolle scheint sie eine entfernte Verwandte jener Orgelûse de Lôgroys zu sein, dieser racheschnaubenden zornigen Frau, deren gute Seite sich erst später abzeichnet, als sie dann Gâwâns Frau wird. Ihr fatales Lachen macht Kundry zu einer entfernten Verwandten von Cunnewâre de Lâlant, deren orakelhaftes Lachen Parzivâl als denjenigen erkennen lässt, der den höchsten Ruhm gewinnen würde.

Wagners Klingsor ist wie Wolframs Clinschor ein Eunuch, der sich kompensierend ausgleichend der schwarzen Magie ergeben hat, bei Wagner aber ein gescheiterter Zöllibatär, der sich selbst kastriert hat, um sein eigenes sündiges Fleisch zu martern. Bei
Wolfram dagegen wurde er von einem eifersüchtigen Ehemann kastriert. Klingsors Zauberschloss hat einen Zauberspiegel, genau wie Clinschors Zauberschloss, und verzauberte Frauen werden hier wie dort gefangen gehalten. Wolframs Clinschor erscheint im Epos selber nicht. Seine Macht wird auch nicht global zerstört, sondern nur in dieser einen Filiale seines weltweiten Konzerns.

Wagners Amfortas – in der Oper der Sohn, nicht der Enkel von Titurel – wird wohl irgendwo in der Seite verwundet, nicht in den Fortpflanzungsorganen, als er hinausstürmt, Klingsors Macht zu zerstören und stattdessen der bezauberten Charme Kundrys unterlag. Wolframs Anfortas hat keinen Handel mit Clinschor selber; allerdings kämpfte er im Minnedienst der Orgelûse, Herrin von Clinschors Zauberschloss, als er von einem Heiden verwundet wurde.

Wolframs Gurnemanz pflegt keinen Umgang mit dem Grâl selber wie dies Wagners Gurnemanz tut. Wir haben ja gesehen, dass Gurnemanz dadurch auch die Rolle von Trevrizent, Bruder von Anfortas, aus logischen Verkürzungsgründen übernehmen kann um Parsifal im Geistigen, besonders am Karfreitag, zu unterrichten. Gawan erscheint bei Wagner nur als Name dessen, der wieder auf der Suche nach Heilmittel aus sei. Bei Wolfram hat Gâwân mit dem Grâl nichts zu tun.

Wagners Parsifal wird so geschrieben, weil jener informiert worden sei – anscheinend irrtümlicherweise – dass das Wort im Arabischen einen “reinen Tor” bezeichne.5 Er ist auch nicht des Mordes an einem Verwandten schuldig, wie dieses Parzivâl ist. Beide Figuren sind aber Schuld am Tode der Mutter Herzeloyde/Herzeleide dort in der Einöde, wohin sie ihn geführt hatte, ihn vor dem Rittertum zu schützen. Parzivâls jugendliche Neigung, Vögel zu töten wird in dem Mord durch den blauäugigen Parsifal an dem Schwan reflektiert. Dabei muss man auch an die drei Blutstropfen in Wolframs Epos denken.

Wolframs Parzivâl stellt die fatale Frage nicht, weil er von Gurnemanz einerseits beraten wurde, nicht soviel zu fragen und andererseits weil er von Zorn beladen zum Tisch ging. Seine Naivität spielte natürlich auch dabei eine Rolle. In der Oper scheint sie die einzige Rolle zu spielen: aber Hand aufs Herz, kann jemand tatsächlich daran schuldig sein, wenn er einfach zu unerfahren ist, das Problem zu verstehen? Erst später, als er am eigenen Leibe die Schmerzen spürt, kann Parsifal die Schmerzen von Amfortas und von Christus verstehen und nachvollziehen. In der Formulierung “Erlösung dem Erlöser” drückt Wagner die doppelte Rolle Parsifals – und der Menschheit an sich – aus: selber gefallen und der Erlösung bedürftig, kann man nur dann erlöst werden, wenn man genug Mitleid aufbringen kann, anderen Erlösung beibringen zu wollen, in imitatio Christi, sozusagen, indem man sie zum Erlöser führen hilft.

Bei Wagner wird die Frage, welche den Bann brechen könnte, durch ein Instrument erweitert: der Speer, der die Wunde schlug, muss auch zurückgebracht werden. Das ist anders als bei Wolfram, der nur beim zweiten Mal dieselbe Frage tut. Bei Wagner ist das fast homöopathisch: die Speerspitze wird heilend wieder in die Wunde gelegt, die sie schlug. Allerdings wurde sowas ähnliches bei Wolfram versucht: weil das Gift daran als “heiß” eingestuft wurde, legte man die Speerspitze bei Anfortas in die Wunde, wenn die Kälte ihn besonders plagt, um das Eis darin herauszuziehen.

Wolframs Gedicht idealisiert ausdrücklich die Ehe und gibt dieser Institution vor dem Zölibat den Vorrang, was für ein Werk aus dem Mittelalter eher überraschend scheint, denn im viel späteren Parsifal spielt die Ehe so gut wie keine Rolle, abgesehen davon, dass verbotene geschlechtliche Beziehungen die Quelle der Verdammnis und der geistigen Verwundung sind (noch schlimmer ist es, wie Klingsor sich selber zu kastrieren, weil man nicht die Kraft aufbringt, im Zölibat zu leben).

Vielleicht gehört das Fehlen einer Betonung auf der Ehe zum generellen Problem der notwendigen Vereinfachung des längeren Gedichts zum Opernlibretto – man hätte mit einem verheirateten Parsifal mindestens eine Sopranstimme mehr und wer weiß wieviel länger benötigt – oder aber Wagner wollte trotz seiner untypischen Quelle irgendwie den Eindruck vom typischen hohen Mittelalter erwecken, wo in unserer Vorstellung die Religion aus Mönchen bestand, die alle im Zölibat lebten. (Wagner selber war ja ganz sicher nicht einer davon, hatte er doch neben seiner eigenen Frau Minna Planer Verhältnisse zu Mathilde Wesendonck und dann ganz besonders zu Cosima von Bülow, Tochter von Franz Liszt, gepflegt, die mit dem Dirigenten und Wagnerfreund und -verehrer Hans von Bülow verheiratet war. Er zeugte mit ihr schon drei Kinder, als sie noch mit von Bülow verheiratet war. Erst nach dem Tode seiner Frau Minna und nach der Ehescheidung der von Bülows, machte Wagner sie zu seiner Frau.)6

Die einzigen Hinweise auf Familienvehältnisse bei Wagner beziehen sich also auf Parsifal und seine Mutter, die er genau wie sein Vater sitzen ließ. In dieser Hinsicht bleibt die Familienproblematik bei Wagner eher implizit und unvollendet. Statt eine glückliche, sogar ewige Ehe und ein glückliches, weitverzweigtes, ja globales Familienleben zu betonen, hebt Wagners Musikdrama eher eine Art mystische, klösterliche Erlösung mit entschieden katholischem Geschmack hervor, samt den Reliquien Kelch und Speer. Wagners Wortschatz und sein Stil sind oft hymnisch, ekstatisch und mystisch. (“Höchsten Heiles Wunder!”)

Keine Version dieser Legende drückt expressis verbis den Gedanken der Apotheose aus (außer dass Parzivâl und Parsifal – in imitatio Christi – Miterlöser mit Christus dem eigentlichen Erlöser werden dürfen), doch bei Wagner findet man auch ausdrücklich wenigstens die Kehrseite der Idee vor, nämlich dort, wo Kundry Parsifal sozusagen die verbotene Frucht anbietet und ihm ähnlich wie Luzifer sagt, wenn er davon genießt, wird er “ wie Gott sein”:

So war es mein Kuss
der welthellsichtig machte?
Mein volles Liebesumfangen
lässt dich dann Gottheit erlangen! [46-47]

In unserem nächsten Werk, auch einer Oper, werden wir ein bemerkenswertes Zusammentreffen der Mozart’schen Idee von Apotheose und – als wäre es unmittelbar von Parsifal übernommen worden – dieses Konzept von geschlechtlicher Übertretung und metanoia, jener Änderung des Geistes, welche man heutzutage Buße bzw. Umkehr nennt. Und wir werden sehen, dass das nächste Werk – Der Rosenkavalier – uns auch zu der Thematik von Wim Wenders und Peter Handke zurückführt, auf die Präexistenz zurückschauend und zur Rückkehr ins heimatliche Paradies vorschauend, und zwar für Paare, deren Liebe sie für “Zeit und alle Ewigkeit” zusammenbindet.

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Fußnoten:

1Zahlen in [ ] beziehen sich auf Seiten im Reclam Libretto (Universalbibliothek Nr. 5640)

2Die Nichte, ehemalige Schwägerin und spätere Frau von König Herodes und Mutter der Salome, deren Tanz auf Geheiß von ihrer Mutter zur Enthauptung Johannes des Täufers führt.

3Lukasevangelium Kapitel 7, Verse 36-39: Es bat ihn aber der Pharisäer einer, dass er mit ihm äße. Und er ging hinein in des Pharisäers Haus und setzte sich zu Tisch. Und siehe, ein Weib war in der Stadt, die war eine Sünderin. Da die vernahm, daß er zu Tische saß in des Pharisäers Hause, brachte sie ein Glas mit Salbe und trat hinten zu seinen Füßen und weinte und fing an, seine Füße zu netzen mit Tränen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salbe. Da aber das der Pharisäer sah, der ihn geladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und welch ein Weib das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin.

4Man lese am besten den Wikipedia-Eintrag darüber unter dem Stichwort “heilige Lanze”.

5Vgl. Harenberg Opernführer (Dortmund: Harenberg, 1997), S. 981.

6Vgl. Harenberg Opernführer (Dortmund: Harenberg, 1997), S. 936-937.