Auf der Suche nach dem Supernalen:
Präexistenz, ewige Ehe und Apotheose in
deutschen Literatur-, Opern- und Filmtexten
Ein Buch von Alan Keele
© 2003, agenda verlag, Münster (Englische Ausgabe)
Deutsche Ausgabe 2009 vom Autor
Inhaltsverzeichnis:
Vorwort.....................................................................................iii
Einige Gedanken zum Sinn und Zweck dieses Buches
Kapitel Eins................................................................................1
Die Engel-Filme von Wim Wenders: Eine Wiederherstellung der ewigen Perspektive durch ästhetische Erinnerungen an die Präexistenz
Kapitel Zwei.............................................................................45
Die Zauberflöte: Mozarts magische Feier der Gottwerdung, des Monads Mann/Frau und des Tempels als Bild des Celestialen
Kapitel Drei..............................................................................77
Die Beethoven Oper Fidelio – Leonorens Suche nach ihrem Mann Florestan, seine Aufdeckung und Neubelebung: Eine Neuerzählung des Mythos von Isis und Osiris (mit einem Exkurs über den Freischütz)
Kapitel Vier..............................................................................87
Wolframs Parzival und der wahre minnaere: Die Erlösung des verwundeten Menschengeschlechts durch Metanoia und durch Imitatio Christi
Kapitel Fünf............................................................................138
Erfüllung oder Enttäuschung? Die Neugestaltung der Parzivâlsage in Richard Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal
Kapitel Sechs..........................................................................158
Von Ehebrecherin zur Göttin, von Buße zur Apotheose, von der Präexistenz zur ewigen Ehe im Rosenkavalier
Kapitel Sieben.........................................................................175
Die Frau ohne Schatten von Hofmannsthal und Strauß – eine fantastische Summa all unserer Themen
Zusammenfassende Schlußfolgerung......................................197
Vorwort:
Einige Gedanken zum Sinn und Zweck dieses Buches
In einem breiten Aufgebot von Meisterwerken der deutschen Kultur vom Mittelalter bis zur Gegenwart – einschließlich einiger Opern und eines Filmpaares – wurde ich über viele Jahre von einer Anhäufung verwandter Themen zunehmend fasziniert. Diese kamen mir wie Fäden in einem großen Wandteppich vor, die bald an die Oberfläche treten dann bald verschwinden, um wieder in neuen Konstellationen zu erscheinen.
Es sind alles transzendentale Ideen, die sich ausnahmslos ontologisch mit den großen Seinsfragen beschäftigen: mit der Wesensart der menschlichen Existenz und mit dem Sinn und Zweck des Lebens aus der ewigen Perspektive – sub specie aeternitatis – gesehen. Mancher Leser wird sie als Echo – und Erweiterung – einiger Ideen und Doktrinen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (“Mormonen”) erkennen. Es handelt sich um:
• die Gottwerdung bzw. die Vergottung der Menschen (Griechisch: Apotheose). Das Endziel – Telos – bzw. das ultimative Schicksal der menschlichen Existenz – Entelechie – ist es, wie Götter zu werden, selbst Götter zu werden.
• die konsequente vorirdische Entscheidung, erstmal Menschen zu werden, denn Körperlichkeit, Sterblichkeit, Zeitlichkeit und Handlungsfreiheit auch im Bereich des Bösen sind unerläßliche Komponente auf dem Wege zur Gottwerdung. Dies bringt auch die Notwendigkeit der Metanoia mit sich, einer Änderung des Geistes (Pneuma), die man Buße nennt. Es bringt mit sich die Notwendigkeit eines göttlichen Erlösers wie auch einzelne Menschen, die in ihrem Wirkungskreis ebenfalls wie Erlöser handeln.
• die ewige Ehe, denn der glückselig anstrengender Weg zur Gottheit wird am besten von einer Einheit begangen, die aus Mann und Frau besteht, welche mit Kindern und Kindeskindern gesegnet werden und durch die Vernetzung aller Abstammung mit der ganzen menschlichen Familie am Ende eine große Familie bilden. Die Liebe ist die Primärkraft, das Primum Mobile, im Werdegang. Die Frau kann die Verkörperung der Liebe sein und oft selbst als Vermittlerin der Erlösung, als Retterin fungieren.
• der Tempel ist ein mikrokosmischer Himmel auf Erden und ein symbolischer Entwurfsplan für das Erreichen des celestialen Lebens.
Meine Behandlung solcher “Mormonen-Gedanken” aus deutschen Kulturtexten gezogen ist als Doppelhuldigung beabsichtigt, einerseits an Theodore Ziolkowski und meine anderen Lehrer an der Princeton Universität, andererseits an meine Kollegen und Studenten der Brigham Young Universität, mit denen ich jetzt über vier Jahrzehnte den Umgang pflege und schätze.
In dieser Huldigung an zwei Universitäten und zwei Kulturen versuche ich, komplexe und lohnende Texte sorgfältig so zu lesen wie ich das von meinen Princeton-Mentoren gelernt habe, aber ausnahmsweise thematisch gerade jene Ideen einzukreisen und zu betonen, welche die Macht haben, besonders bei den Heiligen der Letzten Tage der Brigham Young Universität und sonstwo auf besondere Resonanz zu stoßen.
Um einen Beitrag zur germanistischen Seite des Kontoblattes zu machen war ich durch meinen Wunsch motiviert, das traditionelle Korpus der deutschen Literatur zu erweitern, indem ich die literarischen Aspekte zweier anderer wichtiger Kunstrichtungen – Oper und Film – einbeziehen wollte, um dadurch etwaigen interessierten Kollegen meine neuen Auslegungen mehrerer Texte anzubieten.
Auf der pädagogischen Seite des Blattes wollte ich aber diese außergewöhnlichen Texte meinen mormonischen Studenten und anderen Freunden anbieten, die, wie ihr eigener Glaubensartikel sie auffordert, überall in der ganzen Welt – auch in deutschen Landen – nach Einsicht trachten sollten, “...wo es etwas Tugendhaftes oder Liebenswertes gibt, wenn etwas einen guten Klang hat oder lobenswert ist...” [Glaubensartikel 13]. Ich wollte sie in ihrer starken Tradition und in ihrem Engagement unterstützen, das weiträumige Lernen über alles das “...was sowohl im Himmel als auch auf der Erde und unter der Erde ist” zu betreiben, wie auch in ihrer weiteren Suche nach “...einer Kenntnis von Ländern und von Reichen” [Lehre & Bündnisse Abschnitt 88, Vers 79].
Eines meiner Hauptziele war es, meinen Lesern nahe zu legen, dass die Art und Weise, auf der große Künstler Themen wie diese hier verarbeiten, die Macht besitzt, abstrakten Ideen volles farbiges Leben einzuhauchen, welche vielleicht sonst nur schwarz-weiß-zwei-dimensional in unserer Theologie für sich hindämmern. Ich bin überzeugt, dass der Wert großer Kunst (wie auch der Wert der Wissenschaft, welche große Kunst analysiert) der ist, nicht nur unsere Kenntnisse gewisser Ideen zu bestätigen, sondern dass sie diese Ideen mit einer solchen neuen Wucht vor unsere Seele führt, dass wir sie in ihrer vollen, lebhaften, dynamischen Macht zum ersten Mal lebend erleben.
Schlußendlich hoffe ich, dass meine mormonischen Leser durch diese deutschen Werke tiefergreifend von einigen Zentrallehrsätzen ihres eigenen Glaubens überzeugt werden, und dass sie dadurch auch von dem Wert der großen Ideen in der Kunst überhaupt überzeugt werden, um sich schließlich von der Kunst an sich zu begeistern. (Ich möchte nicht umsonst 40 Jahre lang gegen die Mentalität gekämpft haben, welche “Bildung” für überflüssig oder gar gefährlich abschreibt.)
Ich hoffe auch, dass meine nicht-mormonischen Leser besser einsehen, warum wir Mormonen solche Ideen pflegen, denn viele dieser Lehren sehen sich den Dogmen der herkömmlichen Christenheit diametral entgegengesetzt und bringen sogar einige Vertreter dieser Glaubensrichtungen geradezu in Rage. Die Ideen z.B., welche von Joseph Smith 1844 bei der Beerdigungsfeier für einen Mann namens King Follett zum ersten Mal verkündet wurden, dass Menschen das Potenzial besitzen, selbst Götter zu werden (durch einen Werdegang, den die Götter selbst gegangen sind), und dass der menschliche Geist schon ewig existiert (den ex nihilo Lehren Augustins zum Trotze), haben eine außerordentliche anti-mormonische Reaktion in der Form der “Gottmacher” Attacken (mit einem gleichnamigen Buch und zwei gleichnamigen Filmen von Ed Decker und Dave Hunt) wie auch andere Manifestationen rechtschaffenen Zornes beim rechten Flügel des amerikanischen Christentums ausgelöst.
Aber es wäre falsch, solche Ängste vor solchen Ideen allzuleicht als unbegründet abzutun: in Anbetracht der monströsen Verbrechen, welche “Menschen” verübt haben, die die “Gottheit” angestrebt hatten, und welche – bisher! – ihren Tiefpunkt im Terror des Holocausts erreichten, muss man sich fragen, ob man nicht besser täte, solche hohen Ideen als gefährlich oder bestenfalls als leeren Panglossismus einzustufen. Die Menschen haben weit überzeugender bewiesen, dass sie zu hassen geboren sind als zu lieben; Teufel zu werden als Götter; anderen das Leben zu nehmen als für sie ihr Leben zu lassen.
Es trifft sich, dass dies ein auffällig – allerdings nicht ausschließlich – deutsches philosophisches Dilemma ist. Wir werden in unserer Diskussion der gewählten Texte sehen, dass keine andere kulturelle Tradition reicher ist an Idealismus als die deutsche, durchgehend das Göttliche und die Vervollkommnung der Menschheit zu proklamieren um doch im III. Reich in ihrer eigenen Geschichte sich so gründlich zu diskreditieren.
Man hat sich aber immer schon gefragt, warum das Land der Dichter und Denker auch einen Hitler hervorbringen konnte. Vielleicht liegt das zum Teil darin, dass der Idealismus auch gefährlich sein kann: wenn Menschen glauben, sie können “Götter” werden, was hält sie davon ab, erstmals aus Gottes Gnade “Übermenschen” zu werden, um dann in Seinem Namen “Säuberungen” irgendwelcher Art zu unternehmen?
“Der Idealismus ist unser Grundübel” schrieb der deutsche Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass. Und der polnische Physiker Jacob Bronowski sieht dieses Paradox aus dem Blickwinkel der Naturwissenschaften an. In seiner Fernsehserie “Der Aufstieg des Menschen” [The Ascent of Man] greift er aus einem Weiher in Auschwitz eine Handvoll Asche, auch darunter die Asche seiner ermordeten Verwandten, auf und sagt dazu: “Dies ist es, was die Menschen machen, wenn sie das Wissen der Götter anstreben”.
Der transzendentale Idealismus wurde also in Deutschland nach dem II. Weltkrieg doppelt verdächtig: einerseits, dass er den wahren menschlichen Zustand furchtbar naiv gesehen haben könnte, andererseits, dass er sogar dem Faschismus herbeigeholfen und den Holocaust gefördert habe. Aber einen Verbot über den Idealismus zu verhängen hat auch für deutsche Dichter und Denker auf langer Sicht nur in eine Sackgasse geführt. Wir werden in unserer Analyse eines Filmpaares von Wim Wenders im ersten Kapitel sehen, dass das “menschliche” Dasein ohne Metaphysik in der faden Alltagsrealität der geteilten Großstadt im Kalten Krieg stagniert. Im Schatten der Berliner Mauer trotten die eingemauerten Menschen weiter, ihr “garstiges, viehisches und kurzes Leben” an Bedeutung und Wert viel zu kurz gekommen. Wir werden aber sehen, dass diese Filme auch ein brillanter Versuch sind, der Menschheit zu helfen, etwas von ihrer verlorenen ewigen Perspektive zurückzugewinnen.