Mittwoch, 24. November 2010

Kapitel Eins

Kapitel Eins:

Die Engel-Filme von Wim Wenders1:
Eine Wiederherstellung der ewigen Perspektive durch
ästhetische Erinnerungen an die Präexistenz

Der Nationalsozialismus hatte also das philosophische und sprachliche Klima – wie oben kurz skizziert – bis zur Mitte des XX. Jahrhunderts für ein Ernstnehmen alles Metaphysischen, Religiösen oder Erhabenen in Deutschland verdorben. Kurz, alles was den Wert der Liebe, der Brüderschaft, der Religion, der Volksgemeinschaft ... angedeutet hätte, war nun nach Hitler tabu. Aber als das Jahrhundert zur Neige ging, versuchten zwei mutige Filme von Wim Wenders (der erste unter Mitwirkung des österreichischen Romanciers Peter Handke, der zweite unter Mitwirkung des ostdeutschen Dichters Ulrich Ziegler) den Weg aus dieser philosophischen Sackgasse zu zeigen. Sie wollten Sterblichen einen Sinn für ihre zeitlose Existenz wiederherzustellen. Sie wollten in ihnen die Erinnerung daran erwecken, warum sie schon vor diesem Leben das Leben gewählt haben müssen, und sie wollten ihnen erneut einen Plan zeigen, nach dem sie durch Liebe und Gemeinsamkeit eine Fülle von ihrem paradiesischen Glück zurückgewinnen können.

Weil wir im Laufe der Diskussion sehen werden, dass gerade die Überwindung solcher Tabus für Peter Handke eine ausgesprochene Lebensaufgabe und ein großer Zweck dieser Filme ist, ist es doch wohl besser, wenn wir die chronologische Reihenfolge unserer ganzen Werke auf den Kopf stellen und dieses Filmpaar zuerst examinieren, denn sonst müssten die früheren Werke unter dem Damoklesschwert der NS-Metaphysik und ihrer negativen Nachwirkungen leiden.

Sich vorsichtig vorantastend, undogmatisch, nicht konfessionsgebunden, laden diese Filme uns Menschen also ein, zu unseren metaphysischen, supernalen Wurzeln zurückzukehren, auf der Suche nach Antworten auf unsere tiefsten Seinsfragen. Bescheiden, mit ihrem Ideal nicht Übermensch sondern schlicht Mensch, versuchen Handke, Wenders und Ziegler uns dazu zu bringen, die schwächste Erinnerunsresonanz unseres vorirdischen Daseins bis zu der Einsicht zu verstärken und vergrößern, dass sich eigentlich mit der Zeit nichts geändert hat: Engel – und Gott – sind so nahe, obwohl wir sie in weiter Ferne wähnen – und dass die Liebe immer noch die stärkste Macht im Universum ist.

Unsere Filme spielen in Berlin. Der erste stammt aus dem Jahre 1987, als das Berliner Stadtbild immer noch von seiner berüchtigten Mauer beherrscht war. Der zweite stammt aus dem Jahre 1993, vier Jahre nach dem Fall jener Mauer, zweifelsohne eines der wichtigsten historischen Ereignisse des späten XX. Jahrhunderts. Die tiefe Struktur dieser beiden Filme, mit dem Abriß der Mauer als Achse, zeigt, dass die Filmmacher durch ihre Kunst – unheimlich vorherwissend! – mindestens zwei Jahre früher den Fall der Mauer vorwegnahmen. Der Rest der Welt wurde durch ihren Fall natürlich überrascht. Wir wollen uns diese Struktur näher ansehen:

Der Film von 1987 heißt Der Himmel über Berlin. Dabei ist Himmel ein Schlüsselwort, denn es bedeutet im profanen Sinne das Äther, von wo aus die Stadt gefilmt wird, wo Vögelschwärme, Flugzeuge, Akrobaten, Rundfunksendungen ... alles durch die Luft schwebt. Im übertragenen, transzendenten Sinne erklärt und gerechtfertigt das Wort Himmel die Anwesenheit von Engeln über Berlin, von Wesen also, die seit jeher das Treiben auf diesem historisch bedeutsam gewordenen Fleck Erde beobachten und beglaubigen.

Sie schauen hinunter auf die Bürger von Berlin von hohen Stellen aus, von der Spitze der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder von der Victoria, der “Goldelse”, der geflügelten Göttin auf der Siegessäule am Großen Stern. Nur Kinder können sie sehen, die oft aufwärtsblicken und ihrem Lächeln erwidern. Durch das einzigartige Medium des Filmes – keine andere Kunstrichtung wird das wohl können – werden wir eingeladen, die Welt so zu sehen, wie die Engel sie sehen, und wir dürfen auch die Gedanken der Sterblichen belauschen, wie die Engel es tun, wenn sie meist unbeobachtet vorbeigehen.

Allmählich fließen die Gedankensprache und die Luftbilder der irrgartenähnlichen Stadt in ein beunruhigendes Muster zusammen: viele der Beobachteten sind von anderen verfremdet, nicht nur durch Mauern aus Beton und Backsteinen, sondern durch Generationsmauern, Modemauern, Familiärenmauern, Sprachmauern, das Vermächtnis aller Arten Unmenschlichkeit, der Kriege, der Diktaturen, des Holocausts. So gesehen ist die Stadt Berlin das Symbol an sich der menschlichen Verfremdung vom Makrokosmos – seine Mauer trennt die ganze Welt in zwei nukleare Lager im Kalten Krieg – bis zum Mikrokosmos – jedes Individuum bis zu einem gewissen Grade von allen anderen verfremdet, jeder Mensch der Fürst in seinem eigenen privaten Reich, von Niemandsland und Todeszone umgeben.

Diesen Zustand wird durch die Gedankensprache eines Chauffeurs zum Ausdruck gebracht, der einen Oldtimer aus einer Garage im S-Bahnbogen zum Filmlocation im alten Luftschutzbunker in der Goebenstrasse fährt: “Jibt es noch Grenzen? Mehr denn je ... Das deutsche Volk ist in so viele Kleinstaaten zerfallen ... wie es einzelne Menschen gibt...”

Aber auch im Mikrokosmos Berlin gibt es wichtige Ausnahmen zu diesem Verfremdungsmuster des späten XX. Jahrhunderts: ein Kind wird bald geboren und seine Eltern, noch im Notwagen, freuen sich darauf. Die Engel können manchmal einen Einfluß auf die Verfremdeten ausüben, wie z.B. bei einem Mann in der U-Bahn. Sie scheinen alle Sterbenden trösten und begleiten zu wollen, wie im Falle des verunglückten Motorradfahrers, indem sie mnemonisch die einfachen, alltäglichen aber wichtigsten Sachen des Lebens heraufbeschwören, deren Bedeutung anscheinend erst oberhalb des “Nebels dieser Welt” völlig sichtbar wird: “Wie ich bergauf ging und aus dem Talnebel in die Sonne kam: ... Die alten Häuser Charlottenburgs ... Das Brot und der Wein ... Das Osterfest ...” Das Gedicht endet mit einer Evokation von Sachen, die das Gegenteil der Verfremdung darstellen: “Meine Mutter. Meine Frau. Mein Kind.”

Obwohl sie manchmal trösten können, ohne einen eigenen Körper – und den unantastbaren freien Willen der Menschen respektierend – haben die Engel keine Macht, einzelne Tragödien abzuwenden, sei es im Falle eines Selbstmörders, der vom Europacenter unterhalb des Mercedessterns springen will, eines Backfisches, die nun in die Prostitution absinken wird oder eines Krieges.

Nun hält eine Figur – von Kurt Bois gespielt – ihren Einzug, die sich als Homer enttarnt, eine Verkörperung des alten Bardes, im späten XX. Jahrhundert nunmehr kindisch geworden, bis ans Ende der Welt verschlagen, wie er im Gedanken sagt, der in Berlin herumgeht, seine Muse heraufbeschwörend, und eine Zuhörerschaft suchend, die aus Menschen besteht, die nicht durch Mauern getrennt sind und die seine universale Kraft erkennen werden, seine Rolle als Jedermann, und seine Erzählungen schätzen: “Erzähle, Muse, vom Erzähler, dem an den Weltrand verschlagenen kindlichen Uralten und mache an ihm kenntlich den Jedermann. Meine Zuhörer sind mit der Zeit zu Lesern geworden, und sie sitzen nicht mehr im Kreis, sondern für sich, und einer weiß nichts vom anderen.”

An der kreisförmigen Bewegung der Himmelskörpermodelle in der Staatsbibliothek intensiv interessiert, was mit seiner Interesse an einem Kreis Zuhörer zweifelsohne zusammenhängt, schaut er sich auch dort das Bildband von August Sander an, Menschen des 20. Jahrhunderts. Hier offenbart er sein Vorhaben, ein neues Epos anzustimmen, nicht ein Epos des Krieges, wie früher Ilias und Odyssee, sondern ein Epos der Dinge des Friedens, ähnlich der Litanei der einfachen Dinge beim Tode des Motorradfahrers: “Meine Helden sind nicht mehr die Krieger und Könige, sondern die Dinge des Friedens, eins so gut wie das andere. Die trocknenden Zwiebeln, so gut wie der Holzstamm, der durch den Morast führt. Aber noch niemandem ist es gelungen, ein Epos des Friedens anzustimmen. Was ist denn am Frieden, dass er nicht auf die Dauer begeistert und dass sich von ihm kaum erzählen läßt? Soll ich jetzt aufgeben? Wenn ich aufgebe, dann wird die Menschheit ihren Erzähler verlieren. Und hat die Menschheit einmal ihren Erzähler verloren, so hat sie auch ihre Kindschaft verloren.”

“Wo seid ihr, meine Kinder?” fragt der merkwürdige Greis und sucht ausgerechnet die Begriffsstutzigen, in diesem symbolischen Zusammenhang wohl diejenigen, welche außerhalb der normalen Denk- und Erkenntniskategorien und -schablonen leben. Ohne solche würde er zum verlachten Leiermann: “Wo sind die Meinigen, die Begriffstutzigen, die Ursprünglichen? Nenne mir, Muse, den armen unsterblichen Sänger, der, von seinen sterblichen Zuhörern verlassen, die Stimme verlor, wie er vom Engel der Erzählung zum unbeachteten oder verlachten Leiermann draußen an der Schwelle zum Niemandsland wurde.”

In einem weiteren inneren Monolog erinnert sich Homer, dass es nur die ältesten Spuren sind, die ältesten Straßen, wie die Römerstraßen, die noch über alle Mauern hindurch ins Freie führen. (Interessant, dass diese Szene gerade vor dem Selbstmord im Film steht, denn der Selbstmörder fühlt sich in Berlin gefangen.): “Nur noch die Römerstraßen ... führen ins weite, nur noch die ältesten Spuren führen weiter. Wo ist hier die Paßhöhe? Auch das Flachland, auch Berlin hat ja seine verborgenen Paßhöhen, und dort erst fängt mein Land, das Land der Erzählung, an. Warum sehen nicht alle schon als Kinder die Pässe, Pforten und Durchschlüpfe unten auf der Erde und oben im Himmel? Würde jeder sie sehen,... gäbe es eine Geschichte ohne Totschlag und Krieg.”

Homer sucht unermüdlich den Potsdamer Platz, damals 1987, immer noch ein Niemandsland voller Unkraut und Unrat neben der Mauer. Er erinnert sich auf seiner kindischen Art wie die friedvolle Vorkriegszeit plötzlich dem Antisemitismus und sonstigem Nazihaß weichen mußte: “Das Kaufhaus Wertheim war auch hier. Und dann hingen plötzlich Fahnen, dort ... Der ganze Platz war vollgehängt mit ... Und die Leute waren gar nicht mehr freundlich und die Polizei auch nicht. Aber ich gebe so lange nicht auf, bis ich den Potsdamer Platz gefunden habe!”

In diesen Filmsegmenten scheinen Handke und Wenders noch einmal die Zukunft unheimlich gut vorhergesehen zu haben: jetzt ist der Potsdamer Platz wieder ein belebter Platz, ein wichtiger Schwerpunkt des geeinten Berlins, Deutschlands und Europas ... Es scheint, dass diese Künstler selber etwas wie ein neuer “Homer” sind, die in ihren Filmen das neue Epos des Friedens angestimmt haben und einen neuen Kreis der Zuhörer bzw. Zuschauer gefunden haben. Das werden wir allerdings etwas später genauer besprechen.

In seiner poetischen, kindischen Gabe, die Welt als eine zeitlose, zeitgleiche Ganze zu sehen, teilt dieser homerische “Engel der Erzählung” in etwa die Perspektive der anderen Engel, darum ist ihr gemeinsames Zuhause die Staatsbibliothek in der Potsdamerstrasse, ein Aufbewahrungsort des menschlichen Wissens seit Anfang der Geschichte. Die simultanen Stimmen der Menschheitsgeschichte dort bilden einen ätherischen Chor, dessen Harmonie diesen symbolischen Dom des Lernens erfüllt.

Die Vorgeschichte wird auch von den beiden namhaften Engeln dieses Filmes mit gleicher Klarheit ins Gedächtnis gerufen, nämlich von Damiel (Bruno Ganz) und Cassiel (Otto Sander). Sie erinnern sich daran, dass Berlin einstmals ein Urstromtal war, mit Gletschern: “Weißt du noch, wie wir zum ersten Mal hier waren? Die Geschichte hatte noch nicht angefangen. Wir ließen es Morgen und Abend werden und warteten ab, was kommen würde. Es brauchte lange, bis der Fluß sein Bett fand, bis das stehende Wasser überhaupt zu fließen begann. Urstromtal! Eines Tages, ich erinnere mich noch, hat hier der Gletscher gekalbt, und die Eisberge segelten nach Norden.”

Wie die beiden noch zuschauen, entwickeln sich Flora und Fauna weiter und die Region wird eine Art Savanna, aus dem ihr “lang erwartetes Ebenbild” der erste Zweibeiner tritt, die Stirn vom Gras verklebt. Von diesen Menschen lernen die Engel sprechen. Sie beobachten sie bei ihren Feuerstellen und Rundtänzen, ihren Luftsprüngen, Schriften und Zeichen.

Dann, plötzlich, bricht einer der Urmenschen aus dem Kreis heraus und rennt geradeaus. Solange er geradeaus lief oder manchmal aus Übermut kurvte, halten sie das für normal. Aber auf einmal rennt einer im Zickzack und Steine flogen: “Mit seiner Flucht begann eine andere Geschichte, die Geschichte der Kriege. Sie dauert noch an. Aber auch die erste, vom Gras, von der Sonne, von den Luftsprüngen, von den Ausrufen, dauert noch an.”

Damiel und Cassiel fahren fort, sich diese beiden parallel laufenden Geschichten ins Gedächtnis zu rufen, die Geschichte des Friedens und die Geschichte des Krieges, jene durch die Kurven und Kreise symbolisiert – man denke auch an Homers Wunsch, einen Kreis Zuhörer wiederzugewinnen – und diese durch gerade Linien und spitze Winkel. Daher erinnern sich die Engel an die gerade Straße, auf der Napoleon und seine Armee aus Rußland flüchtete. Daraufhin wurde die Straße gepflastert, aber unter dem Gewicht deutscher und russischer Panzer, die später darüber gefahren sind, ist sie eingesunken wie eine Römerstraße, von der Mauer abgeschnitten und mit Gras überwachsen.

Jetzt, in ihrem simultanen Erwägung aller Geschichte und Vorgeschichte, schaltet Cassiel mühelos zurück auf ein früheres Gespräch der beiden Engel in einem BMW Cabrio in einer Autovertretung auf dem Kurfürstendamm. Dort hatte Damiel seinen täglichen Beobachtungsbericht unterbrochen, um seine Bereitschaft Luft zu verschaffen, seine ewige, geistige Perspektive aufzugeben, um seine eigene Geschichte zu haben: “Es ist herrlich, nur geistig zu leben und Tag für Tag, für die Ewigkeit von den Leuten rein, was geistig ist, zu bezeugen – aber manchmal wird mir meine ewige Geistesexistenz zuviel. Ich möchte dann nicht mehr so ewig drüberschweben, ich möchte ein Gewicht an mir spüren, das die Grenzenlosigkeit an mir aufhebt und mich erdfest macht ... Nicht, dass ich gleich ein Kind zeugen oder einen Baum pflanzen möchte, aber es wäre doch schon etwas, beim Nachhausekommen nach einem langen Tag wie Philip Marlowe die Katze zu füttern. Fieber haben, schwarze Finger vom Zeitungslesen, sich nicht immer nur am Geist begeistern, sondern endlich an einer Mahlzeit, einer Nackenlinie ... einem Ohr. Beim Gehen das Knochengerüst an sich mitgehen spüren. Endlich ahnen, statt immer alles zu wissen.”

Cassiel knüpft nun übergangslos an das frühere Gespräch an: “Und du willst wirklich?”... “Ja. Mir selber eine Geschichte erstreiten. Was ich weiß von meinem zeitlosen Herabschauen verwandeln ins Aushalten einen jähen Anblicks, eines kurzen Aufschreis, eines stechenden Geruchs. Ich bin schließlich lang genug draußen gewesen, lang genug abwesend, lang genug aus der Welt! Hinein in die Weltgeschichte! Oder auch nur einen Apfel in die Hand genommen.” Damiel, ein neuer Adam (was wir auch noch später einmal an Hand eines Apfels erkennen können), will sich einen echten Apfel in die Hand nehmen, das Ding selber, nicht das Penumbral- bzw. Spektralbild eines Objektes wie z.B. das des Bleistiftes, den er früher in der Bibliothek in die Hand nimmt.

Er sehnt sich, das sichere aber abstrakte Wissen in der Präexistenz gegen das menschliche Ahnen zu tauschen, sein zeitloses, grenzenloses (filmtechnisch: schwarzweißes) Herumschweben gegen die wunderbare, (filmtechnisch: farbige) Welt der flüchtigen Erscheinungen, der Regenlachen, Überbleibsel des Urstromes: “Schau, die Feder dort auf dem Wasser, schon verschwunden! Schau, die Bremsspuren auf dem Asphalt. Und jetzt, die Zigarettenkippe, wie sie dahinrollt, und wie der vorzeitliche Fluß versiegt und nur noch die heutigen Regenlachen zittern. Weg mit der Welt hinter der Welt!”

Cassiel scheint im großen ganzen eher skeptisch all dem gegenüber zu stehen, aber einmal, im Cabrio, hatte er Damiel seinen Traum gefrönt. Fast ironisch betonte er die dunkle Seite der Existenz: “Lügen! Wie gedruckt! ... Ja, und sich einmal auch begeistern können am Bösen. Von den Passanten im Vorbeigehen alle Dämonen der Erde auf sich übertragen und endlich hinaus in die Welt jagen ... ein Wilder sein!” Später wird sich zeigen, dass diese rätselhaften Zeilen bis ins kleinste Detail fast buchstäblich eine Prophezeiung von Cassiels kurzer Karriere als Mensch im Film von 1993, In weiter Ferne, so nah! sind.

In diesem ersten Film aus dem Jahre 1987 aber gibt es zwei Hauptgründe, warum von den beiden sich nur Damiel ernsthaft die Menschwerdung überlegt. Den ersten Grund verkörpert eine Akrobatin in einem kleinen Wanderzirkus,2 eine junge Französin namens Marion (Solveig Dommartin), die in einem Engelkostüm mit Flügeln aus Hühnerfedern durch die Manege fliegen soll. Ihr frustrierter Trainer Laszlo (Lajos Kovacs) ruft ihr bei der Übung hinauf zu: “Marion, so doch nicht! Mon Dieu! Was soll denn das? Oma! Mit Schwung, nicht mit Kraft! Ach, was machst du? Nicht baumeln, fliegen! Du bist ein Engel!” Man darf sich wohl fragen, ob das Schlüsselwort Himmel als erstes in ihrem Wutausbruch von den Künstlern beabsichtig war: “Himmel, Arsch, und Zwirn! Und Wolkenbruch! Ich kann nicht fliegen mit den Dingern!”

Mit ihren Engelsflügeln, in der Rolle eines Engels, fasziniert Marion Damiel deswegen soviel, weil sie für ihn wie bei Dante eine (umgekehrte) Beatrice ist, eine Vermittlerin zwischen Himmel und Erde. Als er sie im Zelt beobachtet, wird der Film plötzlich momentan farbig, ein filmtechnisches Symbol dafür, dass Damiel durch Marion einen kurzen Einblick in das farbige Leben auf Erden gewinnt, sein Wissen momentan durch ein Ahnen ersetzt. Denn Menschen, obwohl sie nur bruchstückhaft sehen, dürfen die Welt in vielen schönen Schattierungen der vollen Farbenskala sehen.

Während Marion weiter ihre Nummer übt, wird den Spielern plötzlich gesagt, dass dem Zirkus das Geld ausgegangen sei; heute Abend werde die letzte Vorstellung sein. Marion macht sich momentan Sorgen, weil es Vollmond ist, denn anscheinend sollte eine Trapezartistin einem Zirkusaberglauben nach nicht bei Vollmond die letzte Vorstellung geben, sonst kann sie sich das Genick brechen. Dann überlegt sie sich, wer sie sei, was ihre Rolle im Leben sei: “Wer bist du? Ich weiß nicht mehr. Ich weiß nur: Keine Artistin mehr. Schluß mit dem Trapez! ... So leer. Alles so leer.”

Damiel beobachtet sie nachher in ihrem Wohnwagen, wie sie zu einer aufgelegten Platte mitsingt. Das Lied ist von einer bekannten australischen Band in Berlin, Nick Cave and the Bad Seeds, und ist eine traurige Ballade von einem Karnevalmitglied, einem “Carny”, dessen Schicksal ihrem Schicksal sehr nahe kommt: “And no one saw the carny go, the weeks flew by ‘til they moved on the show, leaving his caravan behind ... The carny left behind a horse, all skin and bones, that he named ‘Sorrow’ and there was a shallow, unmarked grave ...” [Und niemand sah den Carny geh’n, die Wochen flogen dahin, bis die Bude weiterzog, seinen Wohnwagen zurücklassend ... Der Carny ließ ein Pferd zurück, nur Haut und Knochen, das er ‘Leid’ taufte, und da gab’s auch ein untiefes, unmarkiertes Grab...]

Marion scheint die Melancholie dieser Ballade von sich schütteln zu wollen, indem sie die starken Farben aufzählt, die im Film Symbole für die Bejahung des Lebens fungieren: “Bei den Farben sein! Die Farben! Die Neonlichter im Abendhimmel. Die rote und gelbe S-Bahn.” Als sie ihr Kleidchen auszieht, zeichnet Damiel mit dem Finger ihre Nacken- und Schulterlinie nach, was direkt an seine frühere Aussage erinnert: “... sich nicht immer nur am Geist begeistern, sondern endlich an einer Mahlzeit, einer Nackenlinie ... einem Ohr.”

Danach legt sie sich die Hand auf die linke Schulter, als ob sie etwas von seiner Berührung verspürt hätte und ihre Gedankensprache offenbart ihr inneres Verlangen nach Liebe und Gemeinschaft: “Ich muß nur bereit sein, und jeder Mann der Welt wird mich anschauen. Sehnsucht, Sehnsucht nach einer Welle von Liebe, die in mir emporstiege ... Das ist es, was mich immer so ungeschickt macht: die Lustlosigkeit, Lust zu lieben ... Lust zu Lieben!”

Viel Aufregens wurde um diese Szene gemacht, um ihren angeblichen Voyeurismus und ihr “männliches Anstarren” [male gaze], das an sexuellem Einbruch [sexual invasion] laut einem Autorenteam3 grenzt, aber meines Erachtens ist die Szene wunderbar konstruiert und beherrscht durch die Kamerawinkel und eine sehr überzeugende Schuldlosigkeit seitens des Schauspielers Bruno Ganz, der es nie zuläßt, dass Damiels erwachendes Bewusstsein von den Sinnesfreuden zu etwas wie Lüsternheit herabsinkt.4 Vielleicht ist es am Ende ein Fall von honi soit qui mal y pense [das Motto des englischen Königshauses: wer Bosheit hierin sieht sollte sich schämen]. Ich sehe jedenfalls keine Bosheit darin, nur Schönheit und tiefe Bedeutung, wie auch in einer späteren Szene, auch in MarionsWohnwagen, wo sie im Traum Damiel mit seinen Flügeln und in seiner Brustpanzerung sieht, beides Symbole für himmlische Wesen. Am nächsten Abend, wenn sie Damiel zum ersten Mal trifft, sagt sie: “Letzte Nacht träumte ich von einem Unbekannten, meinem Mann ... Ich weiß, du bist es.”

Bevor wir die Schlußszenen des ersten Filmes besprechen können, müssen wir schnell noch zu dem zweiten Einfluß auf Damiel zurückkehren, nämlich zu dem amerikanischen Schauspieler Peter Falk. In diesen beiden Filmen spielt er sich selbst, der in Deutschland besonders gut bekannt und beliebter Schauspieler der Columbo-Serie. Er ist am Anfang des Filmes an Bord der Maschine, die zur Landung in Tegel aufsetzt und er erinnert sich an seine deutsche Großmutter und an wichtige Geschehnisse in Berlin. Er spricht in Gedankensprache zu seiner Oma als er später am Anhalterbahnhof spazierengeht. Er erinnert sich an ihr Wortspiel auf den Namen Anhalter: “nicht der Bahnhof wo die Züge anhalten, sondern der Bahnhof wo der Bahnhof anhält.”

Eine Gruppe staunender Halbwüchsiger kann nicht wissen, dass Falk nach Berlin gekommen ist, um dort eine Rolle als Detektiv in einem Film zu spielen, dessen Handlung er später fürs Fernsehen so beschreibt: “ ... you wanna hear the story? ... Story: 1945, Berlin, war: I’m an American detective, a German-American guy hires me, his brother’s son is in Germany ... go to Germany, find them, the brother is dead, the family is lost, I find the kid.” [Wollen Sie die Handlung hören? Handlung: 1945, Berlin, Krieg: Ich bin ein amerikanischer Detektiv, ein Deutschamerikaner stellt mich an, der Sohn von seinem Bruder ist in Deutschland ... Gehen Sie bitte nach Deutschland, finden Sie sie, der Bruder ist tot, die Familie ist verschollen, ich soll das Kind finden.]

Dieser Dünkel – Film im Film – ist ein produktives Mittel. Es erlaubt die Aufnahme von historischem Filmmaterial wie auch das Evozieren der Gefühle, welche von verschiedenen Requisitien, z.B. Luftschutzbunker, Oldtimer-Mercedes, Statisten in NS-Uniformen, mit Judensternen und wie KZ-Häftlingen gekleidet ausgehen, was das Simultane – das Leben in der Vergangenheit so wie in der Gegenwart – des Hauptfilms betont. Wichtiger noch, die skizzenhafte Handlung dieses Detektivfilmes wird im zweiten Film weiter ausgearbeitet, denn dort wird ausgerechnet auch ein Deutschamerikaner einen Detektiv anstellen, um Familienmitglieder zu finden, die in den Kriegswirren verschollen waren.

Und an einem Punkt im zweiten Film taucht das missing-person - und Detektiv-Motif nochmals wieder auf als Marion Peter Falk auf der Straße begegnet und ihn neckisch-freundlich fragt, ob er ihr vielleicht helfen könnte, jemanden zu finden. Diese Szene vor einer Erfrischungsbude wird zu einem bekannten Leitmotiv in beiden Filmen. In allen vier Vorkommnissen dreht sich Falk nach einem unsichtbaren Engel, streckt die Hand aus und sagt sowas wie folgt: “I can’t see you, but I know you’re here. I feel it. I wish I could see your face, because there are so many things I want to tell you! I’m your friend! Compañero!” [Ich kann dich nicht sehen, aber ich weiß, dass du hier bist. Ich fühle es. Ich wünschte, ich könnte dein Gesicht sehen, denn es gibt so vieles, was ich dir erzählen will! Ich bin dein Freund! Compañero!] Ausnahmslos löst dies bei den jeweiligen Wurstverkäufern einen komischen Reflex, aber durch eine wollwollende Geste versucht Falk immer, sie zu beschwichtigen.

Bei der allerersten Erfrischungsbude, die in der Nähe vom Anhalter Bahnhof, kommt Damiel dazu und hört sich das alles an, auch das Händeschütteln macht er mit. Der Schauspieler (und Zeicher) Falk sagt: “I can’t see you, but I know you’re here! I feel it. I wish I could see your face, just to look into your eyes and tell you how good it is to be here. Just to touch something! Here, that’s cold! That feels good! Here, to smoke, have coffee. And if you do it together it’s fantastic. Or to draw: you know, you take a pencil and you make a dark line, then you make a light line and together it’s a good line. Or when your hands are cold, you rub them together, you see, that’s good, that feels good! There’s so many good things! But you’re not here – I’m here. I wish you were here. I wish you could talk to me, ‘cause I’m a friend. Compañero!” [Ich kann dich nicht sehen, aber ich weiß, dass du hier bist. Ich wünschte, ich könnte dein Gesicht sehen, dir nur in die Augen schauen und dir sagen, wie gut es ist, hier zu sein. Nur um etwas anzutasten! Hier, das ist kalt! Das fühlt sich gut an! Hier, das Rauchen, das Kaffee-Trinken. Und wenn du’s gleichzeitig machst ist’s fantastisch. Oder, das Zeichnen: weißt du, wenn du einen Bleistift nimmst und du einen dunklen Strich machst, dann machst du einen leichten Strich, und zusammen ist es ein guter Strich. Oder, wenn deine Hände kalt sind, du reibst sie aneinander, siehst du, das ist gut, das tut gut! Es gibt soviele gute Sachen! Aber du bist nicht hier – ich bin hier. Ich wünschte, du wärest hier. Ich wünschte, du könntest mit mir reden, denn ich bin ein Freund. Compañero!]

Damiel dreht sich weg und geht zielbewußt los, sein Entschluß anscheinend gefaßt. Er trifft sich mit Cassiel in der Todeszone auf der Ostseite der Berliner Mauer und erklärt ihm aufgeregt sein Vorhaben. Er erzählt ihm auch davon, wie sein erster Tag als Mensch auszusehen hat: “Ich werde in den Fluß steigen. Alter menschlicher Spruch, oft gehört, den ich heute erst verstehe. Jetzt oder nie: Augenblick der Furt. Aber es wird kein anderes Ufer geben: die Furt gibt es nur, solange wir drinnen im Fluß sind. Hinein in die Furt der Zeit, die Furt des Todes! Herab von unserem Ausguck der Ungeborenen! Zuschauen ist nicht herabschauen, es geschieht auf Augenhöhe. Zuerst werde ich ein Bad nehmen ...”

Schon leicht koloriert, als Damiel allmählich Mensch wird, läßt er auch nun plötzlich sehr gefährliche Fußstapfen im sorgfältig geharkten Sand des Todesstreifens hinter sich! Auch die Grenzsoldaten der DDR beginnen sich etwas zu regen, aber bevor sie ihn oder die Fußstapfen entdecken könnten, nimmt Cassiel den etwas betäubten Freund liebevoll auf die Arme und durchläuft mit ihm die Mauer, weitere Rettungsaktionen von Cassiel im zweiten Film vorwegnehmend.

Die nächste Szene – in voller Farbe! – zeigt Damiel auf der Westseite der Mauer in der Waldemarstrasse liegend, gerade dort wo sie von Berliner Künstlern wie Thierry Noir mit großen, farbigen, abstrakten Köpfen bemalt wurde und noch wird. Plötzlich fällt ihm seine Engelsbrustpanzerung auf den Kopf! Er schaut zum Himmel auf, wie es in den Regieanweisungen auch steht, und erblickt einen britischen Helikopter.

Weil die Geburt und die Sterblichkeit beide symbolisch mit Blut etwas zu tun haben, ist es passend, dass Damiel jetzt bemerkt, dass sein Kopf blutet, dass sein Blut rot ist und einen Geschmack hat. “Jetzt begreif’ ich einiges!” ruft er aus. Und obwohl die Leute ihn mindestens für betrunken halten müssten – wie die drei kleinen Mädchen – wenn nicht gar für verrückt, hält ein netter Passant an und hört sich ganz ruhig seine Fragen an, zeigt ihm die verschiedenen Farben und gibt ihm unaufgefordert etwas Geld mit auf den Weg.

Damiel ruft ein Kompliment zum Mauermaler hinauf und läuft schnurstracks zur nächstbesten Imbissstube, wo er sich einen Kaffee bestellt – schwarz! – dessen Temperatur, Geruch und Geschmack zu seinen ersten sinnlichen Eindrücken gehören. Dann reibt er sich die Hände zusammen in der Art von Peter Falk und scheint das auch zu genießen. Nachdem er in einer Antiquitätenhandlung die Brustpanzerung, seinen grauen Wintermantel und den Schal gegen eine auffallend buntfarbige Jacke, einen Hut und eine Armbanduhr getauscht hat, macht er sich auf den Weg zum alten Luftschutzbunker, wo der Detektivfilm gedreht wird.

In dieser bemerkenswerten Szene erfährt Damiel zu seinem Erstaunen, dass es viele Menschen seinesgleichen auf Erden gibt, darunter Peter Falk, der damals in New York seine Brustpanzerung für 500 Dollar habe verkaufen können. Diese Leute halten ihre Mitmenschen für ewige Wesen, mit denen sie vielleicht sogar früher befreundet waren und helfen ihnen mit Geld und mit Aufmunterung. Sie wissen aber, dass die Erkenntnis nur durch Erfahrung kommt: “I want to know! Everything!” [ich will wissen! Alles!] sagt Damiel. “That you have to find out for yourself. That’s the fun of it!” [Das mußt du für dich herausfinden. Darin liegt der Spaß!] erwidert ihm Peter Falk.5

“There is a girl” [es gibt ein Mädchen], hatte Damiel Peter Falk durch den Zaun gesagt. “Ah, a girl, good!” [Aha, ein Mädchen, gut!] erwildert Falk, um anzudeuten, dass das wohl der Schlüssel zum erfahrungsmäßigen Lernprozeß sein könnte. Aber jetzt heißt es, das Mädchen wiederzufinden. Der Zirkus (Latein: Kreis) hatte sein Zelt abgebaut und hat nur einen Kreis Sand und Sägemehl zurückgelassen. Zuerst sitzt Marion eine Zeitlang dort, von Cassiel beobachtet. Dann kommt Damiel später an (es ist das Negative an der Zeit, dass man immer zu spät kommen kann) und setzt sich traurig nieder. Schon wieder sind’s Kinder, die sich fragen, ob er wohl ein Trinker sei. Aber er redet Cassiel in seiner Gedankensprache an und verspricht ihm, dass er sie finden wird, dass es in dieser Nacht noch Frühling wird.

Jetzt zeigt die Kamera Marion und Damiel, wie sie sich entgegen gehen, sie nach links und er hauptsächlich nach rechts. Damiel, wieder als Adam, beißt in einen Apfel und sieht zu, wie Peter Falk im Schaufensterfernseher ihm Mut zuzuzwinkern scheint. Es ist kurz vor acht Uhr abends. Marion ist, wie wir schon gesehen haben, auch Peter Falk vor einer Imbissstube begegnet.

Auf einmal sieht Damiel ein Plakat, worauf ein Konzert von Nick Cave and the Bad Seeds bekanntgegeben wird, um 20h in der alten Hotelruine Esplanade am Potsdamer Platz. Natürlich weiß er noch, dass Marion ein Fan dieser Band ist und weiß, dass sie vielleicht dort anzutreffen wäre. Er kommt allerdings dort etwas später im – noch bestehenden – Kaisersaal an, und zwar gerade als die Band die bekannte Nummer von der Platte in Marions Caravan zum Besten gibt: “The Carny”.

Die letzte Nummer des Abends soll aber ein Lied sein, das “From Her to Eternity” [von ihr in die Ewigkeit] heißen soll, eine Abweichung um ein fehlendes -e von einem bekannten englischen Satz (und Filmtitel): “from here to eternity” [von hier ab in die Ewigkeit]. In der Symbolwelt dieses Filmes könnte das ein bedeutender Titel sein, denn durch Marion wird der frühere, zeitlose Engel Damiel – paradoxerweise – nunmal als sterblicher Mensch in einer chronologischen Welt zum ersten Mal auf die echte Spur der Ewigkeit gebracht.

Das Konzert, das unfehlbar Cassiel nicht gefällt, der sich in ekel abzudrehen scheint, verlassen zuerst Damiel und dann Marion, um in der Ruhe der Bar sich endlich zu treffen. Hier ergibt sich ein bemerkenswerter Monolog – Damiel selber sagt gar nichts – seitens der Marion. Obwohl es gewisse filmsymbolische Hinweise gibt, z.B. die flügelförmigen Ohrringe der Marion, ihr knall- (Apfel-? Blut-?) rotes Kleid (der geteilte Rotwein scheint auch eine sakrale Bedeutung zu haben, erinnert er doch an das Sakrament der Eheschließung), wird erst ein sorgfältig aufmerksames Lesen des Textes von Peter Handke, besonders einiger Schlüsselworte – ernst, Zufall, allein, einsam – das richtige klärende Licht auf die Szene werfen können:

“Es muß einmal ernst werden” beginnt Marion ihren Monolog. Das scheint zu besagen, dass ihre Beziehungen bisher nicht ernst waren. Aber lag das an ihr? “War ich allein so unernst?” Vielleicht ist das Problem größer: “Ist die Zeit so unernst?” Es ging am Anfang des Kapitels um das Befremdungsproblem im späten XX. Jahrhundert. Dies hier hat offenbar genau damit zu tun: “Ich war viel allein, aber ich habe nie allein gelebt” sagt Marion weiter. Sie war also nicht buchstäblich allein, nur seelisch allein.

Auch ihre allernächsten zwischenmenschlichen Beziehungen waren zufällig: “Wenn ich mit jemandem war, war ich oft froh, aber zugleich hielt ich alles für Zufall. Diese Leute waren meine Eltern, aber es hätten auch andere sein können. Warum war der mit den braunen Augen mein Bruder und nicht der mit den grünen Augen vom Bahnsteig gegenüber? Die Tochter des Taxifahrers war meine Freundin, aber ebensogut hätte ich den Arm um den Kopf eines Pferdes legen können. Ich war mit einem Mann, war verliebt und hätte ebensogut ihn stehenlassen und mit dem Fremden, der uns auf der Straße entgegenkam, weitergehen können.”

Mir scheint, hier haben Handke und Wenders in diesem fast surrealistisch anmutenden kleinen Monolog doch ein Generationsproblem gerade unserer Zeit unter die Lupe genommen. Was sagt Marion weiter? “Schau mich an oder nicht. Gib mir die Hand oder nicht. Nein, gib mir nicht die Hand und schau weg von mir.” Könnte das bedeuten, dass das Händchenhalten und das Indieaugenschauen in dieser unernsten Zeit ihre Bedeutung verloren haben?

Ohne Erklärung oder Übergang schneidet Marion ein anscheinend neues Enigma an: “Ich glaube, heute ist Neumond, keine ruhigere Nacht, kein Blut wird fließen in der ganzen Stadt.” Wenn man bedenkt, dass Marion früher Angst hatte, bei Vollmond zu fallen, kann dies hier nur als symbolischer Neumond verstanden werden, was sie auch demnächst sagen wird, nämlich “der Neumond der Entscheidung”, eine Entscheidung, die von der alten Welt der Mauern in die neue Welt nach der Mauer führt.

Aber zuerst versichert sie, dass sie nicht leichtsinnig gelebt habe: “Ich habe nie mit jemandem gespielt und trotzdem habe ich nie die Augen geöffnet und gedacht: Jetzt ist es ernst. Endlich wird es ernst. So bin ich älter geworden. War ich allein so unernst? Ist die Zeit so unernst?”

Jetzt macht Handke, denn es kann sich nur um seine Sprache hier handeln, ein Wortspiel auf das Wort einsam. Hier verleiht er dem Wort eine völlig neue Bedeutung, die genau das Gegenteil von der alten beinhaltet: “Einsam war ich nie, weder allein noch mit jemandem anderen ... Aber ich wäre gern endlich einsam gewesen. Einsamkeit heißt ja: Ich bin endlich ganz. Jetzt kann ich das sagen, denn ich bin heute endlich ganz.” Marion ist also mit Damiel vereint ein Wesen geworden, mit ihm Gemeinsam.

Zufall, diese Wahllosigkeit, nach der sie früher gelebt hatte, muß jetzt dem Neumond weichen: “Mit dem Zufall muß es nun aufhören! Neumond der Entscheidung! ... Ich weiß nicht, ob es eine Bestimmung gibt, aber es gibt eine Entscheidung! Entscheide dich!”

Wofür soll sich Damiel nun entscheiden? Er hatte sich früher entschieden, “mir selber eine Geschichte zu erstreiten” (“jetzt oder nie!”). Diesmal muß er sich anscheinend entscheiden, sich mit Marion zusammen eine Geschichte neuer Stammeltern zu erstreiten, eine ganze Menschengeschichte, stellvertretend für alle anderen Menschen auf Erden, denn unter dem Begriff Stammeltern kann man (mit Langenscheidts großem Enzyklopädischen Wörterbuch) auch Adam und Eva verstehen. Marion fährt fort: “Wir sind jetzt die Zeit. Nicht nur die ganze Stadt, die ganze Welt nimmt gerade Teil an unserer Entscheidung. Wir zwei sind jetzt mehr als nur zwei. Wir verkörpern etwas. Wir sitzen auf dem Platz des Volkes, und der ganze Platz ist voll von Leuten, die sich dasselbe wünschen, wie wir. Wir bestimmen das Spiel für alle! Ich bin bereit. Nun du bist dran. Du hast das Spiel in der Hand. Jetzt oder nie. Du brauchst mich. Du wirst mich brauchen. Es gibt keine größere Geschichte als die von uns beiden, von Mann und Frau. Es wird eine Geschichte von Riesen sein, unsichtbaren, übertragbaren, eine Geschichte neuer Stammeltern. Schau, meine Augen! Sie sind das Bild der Notwendigkeit, der Zukunft aller auf dem Platz.”

Die Szene schließt mit der Beschreibung ihres Traumes, in dem sie ihren zukünftigen Mann erblickte, wo sie auch ein letztes Mal das Wort einsam neu umdeutet: “Letzte Nacht träumte ich von einem Unbekannten, meinem Mann. Nur mit ihm konnte ich einsam sein, offen werden für ihn, ganz offen, ihn ganz als Ganzen in mich einzulassen, ihn umschließen mit dem Labyrinth der gemeinsamen Seligkeit. Ich weiß, du bist es.”

Dies ist keine einfache Szene zu deuten. Filmkritiker waren nicht immer davon begeistert, womöglich weil die Szene fast hunderprozentig literarischer, nicht filmischer, Natur ist. Und weil hier praktisch eine Art neuer Mensch evoziert wird, wurden auch der Faschismus und der Marxismus an den Haaren herbeigezogen. Robert Phillip Kolker und Peter Beicken sind in ihrem Buch über Wenders besonders höhnisch auf diese Szene zu sprechen: “... one is tempted to blame Handke, for the declamation of the final dialogue between Damiel and Marion is pompous and operatic. ... While progressive rock dominates the locale [Esplanade] that used to be a staging ground for Nazi hopes, Marion ... announces her metaphysics of human happiness and progress in history. This potentially subversive moment of female intervention is subverted, however, by Handke’s stilted and artificial language, reverberating with the images and slogans of the Great Revolution and the language of a new mythology that reappropriates Promethean grandeur while coming dangerously close to cryptofascist fantasies ... The activism [Marion] calls for rings with the sounds of leftist songs of the twenties when Mayakovsky in the Soviet Union and Hanns Eisler in Germany created revolutionary songs envisioning the proletariat as harbingers of a new age ... The words of the Left ring with Promethean and revolutionary resolve and then veer in the opposite direction. A neoconservative tinge discolors the utopian rhetoric, allowing images of Nazi racial superiority to creep in ... When this female philosopher of self-realization and utopian fantasy, mediator of eros and history, and redeemer of male desire and human destiny finally embraces her former angel and child-man before the empty bar, the camera moves up to an elevated, distant vantage point. No longer an angelic perspective, it is now the point of view of a superior breed of lovers, a new master race.” [Man ist versucht, Handke die Schuld daran zu geben, denn die Deklamation des Schlußdialoges (!) zwischen Damiel und Marion is pompös und opernhaft ... Während progressive Rockmusik den Schauplatz beherrscht, der früher Sammelgrund war für NS-Hoffunungen {Esplanade}, verkündet Marion ... ihre Metaphysik des menschlichen Glückes und des Fortschrittes in der Geschichte. Dieser potenziell umstürzlerische Augenblick weiblichen Einschreitens wird aber seinerseits umgestürzt durch Handkes gestelzte und künstlerische Sprache, die von Bildern und Parolen der Großen Revolution und der Sprache einer neuen Mythologie widerhallt, welche die Größe des Prometheus an sich reißt, während sie auch cryptofascistischen Fantasien gefährlich nahe kommt ... Der Aktivismus, den Marion aufruft, resoniert mit den linken Liedern der Zwanziger Jahre nach, als Majakowski in der Sovietunion und Hanns Eisler in Deutschland revolutionäre Songs schufen, die sich das Proletariat als Vorboten der neuen Zeit ausmalen ... Die Worte der Linke klingen voll promethischer und revolutionärer Entschlossenheit und scheren dann in die entgegengesetzte Richtung aus. Ein neokonservativer Grundton verfärbt die utopische Redekunst und läßt Bilder der NS-Rassenüberlegenheit einschleichen ... Als dieser weiblicher Philosoph der Selbstrealisation und der utopischen Fantasie, diese Vermittlerin zwischen Eros und Geschichte wie auch Erretterin des männlichen Begehrens endlich ihren gewesenen Engel und Kind-Mann vor der leeren Bar umarmt, bewegt sich die Kamera auf eine höhere, entferntere Aussichtsebene. Keine Engelsperspektive mehr, sie ist jetzt die Perspektive einer übergeordneten Zucht der Liebenden, einer neuen Herrenrasse.]

Es fragt sich, wer eigentlich hier pompös schreibt, Handke oder diese beiden. Davon abgesehen muß man schon sagen, dass das fast alles unbestätigte, nicht überzeugende Behauptungen sind nach dem Muster: Im Hotel Esplanade hätten sich hohe Nazis damals vergnügt, ergo Marion und Damiel sind Nazis. Nicht, dass die beiden Filmkritiker dumm wären: Kolker und Beicken sind oft scharfe Beobachter, besonders filmischer Details. Ich hätte z.B. ohne sie die Ohrringe der Marion wohl nicht bemerkt. Sie verstehen anscheinend Handkes Wortspiel auf einsam. Sie behaupten mit Recht, dass Marion “ ... assumes the role of seer and prophet with a speech that presents the woman as philosopher, mediator, and redeemer of self, history, and utopian ideals,” [... nimmt die Rolle des Sehers und Propheten auf durch eine Rede, welche die Frau als Philosoph, Vermittlerin und Retterin von selbst, der Geschichte und der utopischen Ideale darstellt] und dass “Marion’s annunciation is that of a biblical millennium achieved not through divine intervention but through extraordinary human endeavor.” [Marions Verkündigung die eines biblischen Milleniums ist, welches nicht durch göttliches Eingreifen sondern durch außergewöhnliches menschliches Streben erlangt wird.]

Was Kolker und Beicken, als nicht literarische Kritiker, kaum verstanden haben, ist, dass Handke wohl absichtlich einige NS-Begriffe aufrufen wollte. Es durfte wohl eine bewußte Provokation gewesen sein, als Handke Marion das Wort Volk in den Mund legte: “Wir sitzen auf dem Platz des Volkes.” Es ist ein Wort, das Handke bewußt rehabilitieren möchte, denn es drückt das aus, worum es eigentlich in diesen Filmen geht, um die Gemeinsamkeit, um die Überwindung der verschiedenen Mauern zwischen den Menschen.

Handke äußert sich schon lange und oft über seinen Wunsch, den Begriff Gemeinsamkeit und das Wort Volk zu rehabilitieren, wie auch verwandte metaphysische Begriffe wie Gott, Schönheit, Heiligkeit und Gnade. In einem Interview mit ðarco Radakoviƒ aus dem Jahre 1985 besprach Handke diese Sache unter Bezugnahme eines seiner Werke, das fünf Jahre früher erschienen war, des zweiten Bandes seiner Tetralogie Langsame Heimkehr mit dem Titel Die Lehre der Sainte-Victoire: “Das war das Problem des ganzen Nachkriegsdeutschlands, glaube ich ... das durch die ganze Hitlerregime, dass durch diese furchtbare Scheiße .. soviele, viele Begriffe und mit ihnen auch die Perspektiven, oder umgekehrt – wie man es sehen will – im ganzen Volk ausgestorben sind ... und dass es jetzt infolgedessen kein Volk mehr gibt. Vielleicht hatte es in Deutschland nie eins gegeben. Volksein ist, im großen ganzen, problematisch. Also, die Worte ‘Natur’, ‘Gott’, ‘Geschichte’, ‘Schönheit’, ‘Gnade’, alles ... die ganzen religiösen Begriffe und die Naturbegriffe ... das Wort Volk auch, sind alle tabu, als Ergebnis der Nazis. Aber ich, je älter ich wurde, und auch einfach durch Erfahrung (ganz gewiss nur durch Erfahrung; man kann nur aus tiefer Erfahrung schreiben) ... ja, ich konnte nicht umhin, diese religiöse, naturgerichtete Idee zu begreifen, diese Idee, welche auch nach Einheit gerichtet ist und daher zum Volk hin, nach irgend einem Begriff Volk, nach einem verkörperten, leiblichen Begriff Volk. Und wie geht man mit der deutschen Sprache um, die von den Nazis so furchtbar vergewaltigt wurde? Und darum sehe ich Die Lehre der Sainte-Victoire als Wendepunkt der deutschen Literatur. Bis dahin hatte man gar nicht gewagt zu erwähnen, was die Natur sei, was Gott ist, was die Schönheit ist, was die Kunst erreichen kann ... Darum ist meine Lehre der Sainte-Victoire, wie ich auf die letzten fünf Jahre zurückblicke, eine Riesenprovokation für mich und für die deutschsprachige Literatur. Überall in der deutschsprachigen Literatur alles, was sich mit der Schönheit und mit dem religiösen Impuls beschäftigt hätte – der ja auch im Menschen wesentlich ist – ich bestehe darauf ... über die Jahre ich, ein religiös geschwächter Seminarist, bin immer wieder dahin zurückgekehrt. Ich werde immer die Staatsreligion hassen und ein Feind derer sein, welche Menschen im Namen der Religion reduzieren. Ich werde aber die Formen immer verteidigen, die, in welcher Religion auch immer, sich entwickelt haben – die klassischen Formen, unglaublich ergreifend, die ergreifendsten Formen, gerade jene Formen, die den tiefsten Inhalt an den Tag legen, den die Menschen je erreicht haben. Und dies ist die Lehre der Sainte-Victoire – es ist die Geschichte davon, was die Kunst erreichen sollte.”6

Kolker und Beicken sind unwissendlich auf eines der wichtigsten Themen unserer Zeit – und unseres Buches – gestolpert, obwohl sie eigentlich nicht auf sondern geradezu über dieses Thema gestolpert sind. Es ist nämlich eine beachtenswerte Errungenschaft von Handke und Wenders, dass sie es gewagt hatten – auf das Risiko hin, nicht ernst genommen oder gar als Faschisten verschrieen zu werden – durch ihre Kunst gewisse metaphysische Werte wiederherstellen zu wollen, deren Mißbrauch geradezu dem Faschismus Tür und Tor geöffnet hatte, um dann vom Faschismus selbst zerstört bzw. tabuisiert zu werden.

Kolker und Beicken hätten fast verstanden, was Wenders und Handke im Himmel über Berlin erreichen wollten, aber – anscheinend von zuviel political correctness erblindet – weisen sie die Ideen des Filmes als religiöser, romantischer Kitsch oder noch schlimmeres: crypto-faschistisch! von der Hand. Leider, und paradoxerweise, endet ihr Buch über die Filme von Wim Wenders mit einem Erguß der Verachtung gegen Wenders, indem sie ihm Faschismus und Kommunismus gerade in einem Film vorwerfen, der menschliche Methoden sucht, die verheerenden Schäden zu reparieren, welche diese unmenschlichen Systeme angerichtet hatten!

Eines der Probleme für Kolker und Beicken war, dass in ihrem Buch der zweite Film In weiter Ferne, so nah! nicht berücksichtigt wurde, weil das Buch zwar im selben Jahr aber kurz vor dem Film erschien. Viele ihrer Behauptungen können an Hand des zweiten Filmes nochmals widerlegt werden. “Instead of procreating a mortal child” schreiben sie z.B. an einer Stelles ihrer Buches, “the creation of a unifying immortal race of giants is promised.” [Anstatt ein sterbliches Kind zu erzeugen, wird die Erschaffung einer vereinheitlichenden unsterblichen Riesenrasse versprochen.] Im zweiten Film haben Damiel und Marion doch ein sterbliches Kind, und sogar ein sehr entzückendes. Vielleicht ist auch die charmante kleine Doria auch auf ihrer Art einer der “unsichtbaren Riesen” welche Marion in ihrem Monolog erwähnt.

Was stellten sich wohl Kolker und Beicken unter dem Begriff “unsichtbaren, übertragbaren Riesen” vor? Welcher vernünftige Mensch könnte sich überhaupt vorstellen, dass solche progressive Künstler wie Handke und Wenders heutzutage damit nur irgendwelche Nazi-Übermenschen oder sonstige rekrudeszente Stereotypen gemeint hätten?

In diesen Filmen zeigen Wenders, Handke, und Ziegler, dass die NS-Zeit eine beispielslose Katastrophe war, und dass die neuen Helden des alten Homers und ihres neuen filmischen Epos des Friedens nicht die Könige und Krieger mehr sind, sondern die einfachen Dinge des Friedens. Ihre Helden sind also Leute wie Peter Falk, für den es keine “Extra-Menschen”7 gibt, oder es sind Leute wie der nette und geduldige Mann auf der Straße, der dem neugeborenen Damiel seine Farben zeigt und ihm unaufgefordert Geld gibt. Diese Riesen sind unsichtbar, weil man ihnen ihre wahre Größe nicht ansieht. Sie ist eine innerliche Qualität. Und es sind übertragbare Riesen, weil diese innerliche Qualität auch ansteckend ist, was wir demnächst auch im zweiten Film sehen werden.

Aber die Herren Kolker und Beicken haben uns hier ohnehin schon zulange aufgehalten. Wir wollen noch eine letzte Facette des ersten Filmes kurz besprechen, die diese beiden im Grunde außer acht lassen, womöglich weil es ein Gedicht von Peter Handke ist, dem sie besonders abgeneigt sind. Das sehr wichtige Gedicht umrahmt den ganzen Film von der ersten Szene bis zur letzten, wo eine Hand, wahrscheinlich die Hand von Damiel, auf ein Blatt Verse schreibt, während die Stimme Damiels das Gedicht vorspricht:

Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte, der Bach sei ein Fluß,
der Fluß sei ein Strom
und diese Pfütze das Meer.
Als das Kind Kind war,
wußte es nicht, dass es Kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins.
Als das Kind Kind war,
hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnkeit,
saß oft im Schneidersitz,
lief aus dem Stand,
hatte eine Wirbel im Haar
und machte kein Gesicht beim Fotographieren.

Der Sinn dieser ersten Strophe scheint wohl der zu sein, dass Kinder noch nicht die Gaben der Einbildung und Ungezwungenheit verloren haben, welche ihnen erlauben, die Engel zu sehen, die Welt wie Engel zu sehen und die Art Zuschauer zu sein, die sich der alte Homer sucht, der seinerseits versucht, die Menschheit vor der Verlust ihrer Kindheit zu schützen. Die Mauern der Gewohnheiten, der Meinungen, der Angeberei existieren im Kinde noch nicht.

Die zweite Strophe des Gedichts untermauert und unterstreicht einige visuelle Szenen mit Kindern. Einige Knaben spielen ein Videospiel. Ein gehbehindertes Mädchen wird angezogen. Ein Baby wird bald geboren:

Als das Kind Kind war,
war das die Zeit der folgenden Fragen:
Warum bin ich Ich und
warum nicht Du?
Warum bin ich hier und
warum nicht dort?
Wann begann die Zeit
und wo endet der Raum?
Ist das Leben unter der Sonne
nicht bloß ein Traum?
Ist, was ich sehe und höre und rieche,
nicht bloß der Schein
einer Welt vor der Welt?
Gibt es tatsächlich das Böse
und Leute, die wirklich die Bösen sind?
Wie kann es sein, dass ich, der Ich bin,
bevor ich wurde, nicht war
und dass einmal ich,
der Ich bin, nicht mehr der,
der Ich bin, sein werde.

Diese zweite Strophe stellt, in kindischen Worten, jene Seinsfragen, welche den ganzen Film ausmachen aber ausgerechnet in Marions Monolog wieder auftauchen: “Warum war der mit den braunen Augen mein Bruder?” In ihrem Traum murmelt sie sogar die Worte aus diesem Gedicht vor sich hin: “Warum bin ich Ich und warum nicht Du? Warum bin ich hier und warum nicht dort?”

Die dritte Strophe des Gedichts untermauert auch Filmszenen, in denen Kinder vorkommen, nämlich im Zirkusmatinee:

Als das Kind Kind war,
würgte es am Spinat, an den Erbsen, am Milchreis und am gedünsteten Blumenkohl,
und ißt jetzt das alles,
... und nicht nur zur Not.
Als das Kind Kind war,
erwachte es in einem fremden Bett, und jetzt immer wieder,
erschienen ihm viele Menschen schön, und jetzt nur noch im Glücksfall,
stellte es sich klar ein Paradies vor,
und kann es jetzt höchstens ahnen, konnte es sich ein
Nichts nicht denken,
und schaudert heute davor.
Als das Kind Kind war, spielte es mit Begeisterung,
und jetzt,
so ganz bei der Sache wie damals nur noch, wenn diese
Sache seine Arbeit ist.

Der Sinn dieser Strophe ist wohl der, dass Kinder irgendwann einmal aufwachsen, sich in Gewohnheiten einfahren und das Kindische verlieren. Das Nichts hat ihre Erinnerung an ein Paradies fast gänzlich vertrieben. Höchstens ihre Arbeit macht ihnen noch etwas Spaß.

Die vierte Strophe kommt im Film nach der Menschwerdung Damiels vor:

Als das Kind Kind war,
genügten ihm als Nahrung Apfel und Brot,
und so ist es immer noch.
Als das Kind Kind war,
fielen ihm die Beeren wie nur Beeren in die Hand,
und jetzt immer noch,
machten ihm die frischen Walnüsse eine rauhe Zunge,
und jetzt immer noch,
hatte es auf jedem Berg die Sehnsucht nach dem immer höheren Berg
und in jeder Stadt die Sehnsucht nach der noch größeren Stadt,
und das ist immer noch so,
griff im Wipfel eines Baumes nach den Kirschen in einem Hochgefühl
wie auch heute noch,
hatte Scheu vor jedem Fremden und hat sie immer noch,
wartete es auf den ersten Schnee und wartet so immer noch.
Als das Kind Kind war,
warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum
und sie zittert da heute noch.

Hier wird das Thema Essen von der vorigen Strophe übernommen, aber diesmal wird die Tatsache gefeiert, dass nicht alle kindische Eigenschaften in Erwachsenen verloren gegangen sein dürften, besonders für Erwachsene, die mit frischen Augen sehen lernen können. Die Kindheit bleibt, in der Zeit suspendiert, wie die zitternde Lanze, die gegen den Baum geworfen wurde.

Das Gedicht hat uns zur vorletzten Szene des Filmes geführt. Es ist der Tag nach dem Monolog von Marion in der Bar des Kaisersaales im Hotel Esplanade. Obwohl das nicht sofort auffällt, sind Marion und Damiel wieder im selben Kaisersaal, wo Nick Cave and the Bad Seeds gespielt hatten (und der jetzt übrigens nach seiner kurzen Fahrt auf Luftkissen ein Teil des Sony Centers am Potsdamer Platz ist.) Damiel steht nun auf der Erde und hält Marion während ihrer Übung oben in der Luft das Seil. Cassiel lungert herum, in einer Aura von schwarz-weiß, die sein Außenseitertum betont und seine Langeweile erklärt. Damiels Off-Stimme erinnert an die erste Szene und fasst zusammen, was er jetzt mitgemacht hat:

“Etwas ist geschehen,” sagt er, “es geschieht immer noch. Es ist verbindlich! Es war in der Nacht, und ist jetzt am Tag. Jetzt erst recht. Wer war wer? Ich war in ihr ... und sie war um mich. Wer auf der Welt kann von sich behaupten, er war je mit einem anderen Menschen zusammen? Ich bin zusammen. Kein sterbliches Kind wurde gezeugt, sondern ein unsterbliches gemeinsames Bild. Ich habe in dieser Nacht das Staunen gelernt. Sie hat mich heimgeholt, und ich habe heimgefunden. Es war einmal. Es war einmal, und also wird es sein. Das Bild, das wir gezeugt haben, wird das Begleitbild meines Sterbens sein. Ich werde darin gelebt haben. Erst das Staunen über uns zwei, das Staunen über den Mann und die Frau hat mich zum Menschen gemacht. Ich ... weiss ... jetzt, was ... kein ... Engel ... weiss.”

Die Schlußszene fungiert als eine Art musikalische Koda. Cassiel sitzt traurig auf dem Flügel der Victoria während Homer in Richtung Mauer läuft und folgende Worte murmelt: “Nennt mir die Männer und Frauen und Kinder, die mich suchen werden, mich ihren Erzähler, Vorsänger und Tonangeber, weil sie mich brauchen, wie sonst nichts auf der Welt.” Die Kamera schwenkt auf, um Cassiels Blick in Richtung Himmel (laut Anweisung) zu folgen. Es bricht ein Sonnenstrahl durch die Wolken, was auch in der Anweisung steht. Darin heißt es weiter: “Im Himmel erscheint die Schrift FORTSETZUNG FOLGT.” Homers Off-Stimme sagt dann, auf Französisch: “Nous sommes embarqués” – wir sind an Bord, wir sind eingeschifft, wir sind auf dem Wege. Das blickt genau vorwärts zum Schluß des zweiten Filmes, wo unser kleiner Kreis unsichtbarer Riesen diesmal in ihrem alten Boot, dem Alekahn,8 in Richtung herabsinkender Sonne fahren und wo genau dieselben französischen Worte in der Stimme des alten Homers erneut erklingen, als wären sie diesmal eine Einladung an die ganze Menschheit.

Dann erscheint die Schrift “allen ehemaligen Engeln gewidmet, vor allem aber Yazuhiro [Ozu], François [Truffaut] und Andrej [Tarkovsky]”, alles selber Filmmacher, die für Wenders eine besondere Bedeutung zu haben scheinen.



Der zweite Film im Diptychon, In weiter Ferne, so nah!, der 1993 erschien, anscheinend ohne Peter Handkes weitere Mitarbeit gedreht sondern mit einem jungen Ostdeutschen Dichter namens Ulrich Ziegler, bleibt nichtsdestoweniger der mythopoetischen und symbolischen Welt des ersten Filmes treu, auf dem er weiter baut und dessen Versprechen er erfüllt.

Der zweite Film beginnt mit einer Schrift aus der Bibel, aus dem Matthäusevangelium, Kapitel 6, Verse 22-23: “Die Leuchte Deines Leibes ist Dein Auge; Ist nun Dein Auge lauter, wird Dein ganzer Leib im Lichte sein; Ist aber Dein Auge böse, wird Dein ganzer Leib im Finstern sein.”

Nach dem Schlag eines Engelflügels, zu der bekannten Musik des Engelchores, kommen durch eine Blende, ein sogennantes “Iris in” – als wäre es die Regenbogenhaut eines Engelsaugens – die bekannten Szenen und Laute vom ersten Film, vom Himmel über Berlin, auf die Leinwand. Cassiel sitzt auf der Victoria, dann springt er in einem Salto (salto mortale!) hinunter. Er hört sich die Gedankensprache der Passanten an – jetzt fährt auch ein Ostberliner in seinem Trabi am Großen Stern vorbei – bis er endlich Damiels Stimme heraushört, die Stimme eines glücklichen Pizzamannes, Inhaber des Pizzarestaurants Casa dell’Angelo – Öffnung demnächst – der aus voller Kehle Finiculi, Funicula singt, als er auf seinem Lieferdreirad daher strampelt.

Kurz davor wird die Stimme Cassiels im Off hörbar: “Ihr, ihr, die wir lieben, ihr seht uns nicht ... Ihr hört uns nicht, ihr wähnt uns in weiter Ferne, doch sind wir so nah. Wir sind Boten, die Nähe zu tragen zu denen in der Ferne, wir sind Boten, das Licht zu tragen zu denen im Dunkeln, wir sind Boten, das Wort zu tragen zu denen, die fragen. Wir sind nicht Licht, wir sind nicht Botschaft, wir sind die Boten, wir... sind nichts... Ihr seid ...uns ... alles ...”

Genauso wie die Stimme Damiels im ersten Film als Rahmen am Anfang und am Ende stand, wird Cassiels Stimme auch am Ende des zweiten Filmes eine erweiterte Version dieser Anfangsanrufung der Menschen aussprechen und die Bedeutung dieser Worte klären.

Jetzt aber kommt eine Überraschung, die Off-Stimme, in russischer Sprache, von Mikhail Gorbachew. Bald dann sehen wir ihn auch, wie er in Berlin am Schreibtisch sitzt und zum Fenster hinaus in Richtung Telespargel, dem Ostberliner Fernsehturm, blickt. Der Film wird momentan farbig. Wenders hat Gorbi zweifellos für diese Cameorolle engagiert, weil er derjenige ist, der für die Wiedervereinigung Deutschlands und den Abbau der Berliner Mauer am meisten verantwortlich war. (Willy Brandt bekommt später im Film auch sein symbolisches Lob. Ronald Reagan und George H.W. Bush müssen leer ausgehen.)

Gorbachews Gedankensprache beginnt mit der Erwägung der ontologischen großen Seinsfragen, die im ersten Film schon eingeführt wurden. Dann formuliert er die grundlegende Prämisse beider Filme neu um, nämlich dass die Liebe, nicht Blut und Stahl, der Welt helfen wird, eine neue Einheit, ein harmonisches Ganzes, ohne Mauern, zu konstruieren: “Ja, die uralte Frage ... die Bedeutung des Lebens; warum ist die Menschheit hier? Solch ein kurzer Augenblick, mit der Ewigkeit verglichen. Ich frage mich, ist es besser oder schlimmer, dass die Menschen ihr Schicksal nicht voraussehen? Besser, glaube ich, weil sie dann durch ihr ganzes Leben hindurch suchen und sich zum Zwecke ihres Daseins Fragen stellen. Hier sind einige sehr ergreifende Verse von unserem Landsmann Fyodor Tyuchev, Dichter und Diplomat: ‘Die Einheit, so wird es in der ganzen Welt verkündet, kann nur mit Blut und Stahl geschmiedet werden. Wir lassen uns durch die Liebe den Weg zeigen. Dann werden wir schauen, welches am Längsten währt.’ Ich bin sicher, dass eine sichere Welt nicht auf Blut gebaut werden kann, nur auf Harmonie. Wir Menschen, Politiker, Philosophen, Schauspieler, Arbeiter, Bauern, Menschen aller Glaubensrichtungen, wir müssen uns darauf einigen. Wenn wir uns nur darauf einigen können, können wir den Rest lösen.”

Weil er dann seine Feder nimmt und etwas zu unterzeichnen scheint, nehme ich an, dass seine Worte hier eine Zusammenfassung der Gedanken wiedergeben sollen, die ihn 1985 bei der Einführung von Glasnost und Peristroika beeinflusst haben werden, und die das Geschichtsverständnis dieses außergewöhnlich einsichtsvollen Mitglieds des Politbüros ausmachen.

Der kurze farbige Augenblick, der hier eingeblendet wird, scheint symbolisch zu besagen, dass die Wende dem alten Schwarzweißdenken des Kalten Krieges ein Ende gesetzt hätte. Wir werden aber bald erfahren, dass sich neue Probleme ergeben haben, welche Mitglieder unserer wachsenden Engelmenschenfamilie lösen müssen.

Zuerst kommen aber wieder Bibeltexte vor. Jetzt hören wir die Stimme von Raphaela (Nastassja Kinski), einem weiblichen Engel, deren Worte nur leicht vom Buch des Predigers, Kapitel 3, abweichen: “Ein jegliches hat seine Zeit. Und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden hat seine Zeit. Sterben hat seine Zeit. Töten hat seine Zeit. Heilen hat seine Zeit. Weinen hat seine Zeit. Lachen hat seine Zeit. Suchen hat seine Zeit. Schweigen hat seine Zeit. Reden hat seine Zeit. Lieben hat seine Zeit ... Lieben hat seine Zeit. Hassen hat seine Zeit. Streit hat seine Zeit. Friede hat seine Zeit.”

Hierin liegt ein Hinweis, dass in diesem zweiten Film das Wort Zeit eine Schlüsselrolle spielt. Wir haben natürlich schon im ersten Film gesehen, wie wichtig die Zeit für Damiel war, der, nachdem er in “die Furt der Zeit” hinein wattete, auf seine neue Armbanduhr deutete und zu Peter Falk sagte: “Hours, minutes, days ... Time!” [Stunden, Minuten, Tage ... die Zeit!]. Wir haben auch Marion sagen hören: “Wir sind jetzt die Zeit.” Hier werden wir aber bald sehen, dass eine Figur im zweiten Film auch buchstäblich die Zeit selber personifiziert.

Raphaela tröstet und hilft einem sterbenden jungen Mann [Martin Olberz], womöglich ein Junkie, dessen letzte Augenblicke auf Erden auf dem von alten Fahrzeugen vollgestellten Brachland Potsdamer Platz stattfinden. Cassiel kommt dann auch dazu. Dank des guten Einflusses der Engel sieht der Jüngling anscheinend eine Vision von seinem entgültigen Zuhause, von dem Weg dahin und von der Vergebung Gottes, die dort auf ihn wartet. Auch sieht er zwei Pappeln vor dem Haus, die für ihn irgendwie ein Tor bilden. Er denkt: “Der Weg ist so leicht. Er mag lang sein; am Ende vezeiht Er dir alle gegangenen Schritte. Dort stünden nicht Pappeln sonst. Zwei immer. Ein Tor. Komm, Weg, jetzt mußt du der einzige sein.”

Das andere Schlüsselwort, Licht, das im ersten Bibelzitat so prominent war – und für einen Film, ein Lichtspiel, geradezu symbolisch ist – ist hier für die Engel von großer Bedeutung: Cassiel sagt zu Raphaela: “Wenn doch unsere Tränen ihnen helfen könnten, Raphaela. Wenn wir ihr Dunkel doch nun manchmal besser erhellen könnten.” Sie erwidert: “ Laßt uns nie aufhören, das Licht zu feiern, Cassiel. Nur das Licht zeigt ihnen, wie sie sind.”

Wieder, wie im ersten Film, führt uns die Kamera von oben durch ein Labyrinth von Häusern und Höfen – und auch durch ein Labyrinth von Handlungssträngen und Personen. Nun fahren wir durch Mauern und Wände hindurch und lernen Hanna [Monika Hansen] und ihre Tochter Raissa9 [Aline Krajewski] kennen. Sie sprechen über einen gewissen Konrad, der augenscheinlich für sein Essen auf sie angewiesen ist. Sie werden aber von einem Detektiven beschattet namens Philipp Winter [Rüdiger Vogler], der sehr oft in Wenders Filmen als Detektiv mitspielt, dessen Gedankensprache uns aufdeckt, dass er sowas wie ein Amateurphilosoph ist.

An der Außenseite der Wohnungstür horchend, überlegt sich Winter den Stand der menschlichen Dinge und beschuldet die Städte, wo es ja eben solche Wände gibt, an der er steht: “... das ist nur Zeitvertreib, ein Spielchen ... Die meisten von uns sind so langweilig geworden, weil die Städte, in denen wir wohnen,so langweilig sind. Es muß einst eine große Langeweile die Nomaden angefallen haben, und sie sagten sich: Laßt uns hier und hier und da und da aus den Steinen entsetzliche Städte errichten, dass unsere Müdigkeit vor diesem Leben auf Plätzen und Straßen liegt und in Häusern und Wohnungen, denn wir sind leer und wir sind alle, leer und alle, sind wir alle ... Wie hieß das? Ein Jagen nach dem Wind. Es müßte wieder was hineinfallen, so eine Art Freude ...”

Diese Rede wiederholt wichtige Themen vom ersten Film, dass die Menschen z.B. in einer Art Verfremdung hinter Mauern verkümmern, und dass etwas Gutes passieren muß, um diese Mauern abzubauen, damit die Menschen am Ende wirklich im Sinne von Marion und Damiel einsam werden können.

Es stellt sich heraus, dass besagter Konrad ein alter Chauffeur ist, der in einem Wohnwagen haust, der auf dem Gelände einer alten Industrielandschaft aufgestellt ist, nämlich in Rüdersdorf, wo die alte Zementfabrik jetzt als Museum aufbewahrt wird. Als Hanna sich mit einem Korb Essen auf den Weg zu ihm macht, wird sie von Winter in seinem VW Cabrio befolgt. Bald sieht Cassiel ihn von Hanna und Konrad und von Konrads beliebtem altem Adler, Baujahr ‘38, heimlich Fotos knipsen.

Cassiel liest in der Schreibmaschine etwas, was Konrad getippt haben muß: “Heute ist ein Tag wie jeder andere. Die Zeit vergeht immer langsamer.” Cassiel denkt bei sich: “Was für ein merkwürdiger Gedanke! Das klingt, als wäre sie ein Schmerz, die Zeit.” In der nächsten Szene kommt er auf diesen merkwüdigen Gedanken zurück: “Wenn ihnen die Zeit nichts als ein Schmerz wäre, dann wäre doch ihre Vollkommenheit ganz um sonst.” Was könnte das bedeuten? Ist die Zeit nur etwas, was Männer wie Konrad alt macht und sie zermürbt? Oder kann die Zeit etwas mit der Vollkommenheit der Menschen etwas zu tun haben? Es bleibt vorerst eine offene aber interessante Frage.

Hanna, während sie im alten Wohnwagen eine Zigarette raucht, macht sich auch Gedanken über die Zeit, und über die Orte, wie dieser hier, wo die Zeit sich irgendwie anders bewegt, wo die Zeit gerne etwas länger weilt: “An manchen Orten scheint die Zeit einfach länger bleiben zu wollen. Nicht, dass sie stillstünde, sie bewegt sich nur anders. Das sind vielleicht Orte, wo früher viele Menschen gearbeitet, durcheinander geredet, geschimpft haben. Eines Tages waren dann diese Orte nicht mehr wichtig genug, und alle sind weitergezogen. Und dann erst kann einer wie Konrad in so ein altes Kalkwerk kommen und sagen: hier ist gut sein, hier kann ich jetzt bleiben.”

Cassiel versucht, diese Zeit zu verstehen, indem er die Atemzüge der Menschen zählt. Dabei findet eine Blende nach 1945 zurück statt: “Dieser Atem ist jetzt, und jetzt, und jetzt, und immer schon jetzt ...” In den nächsten Szenen finden wir heraus, dass Konrad die kleine Hanna erzogen hat, nachdem er ihre Familie in den letzten Stunden des Krieges zum Flughafen Tempelhof gefahren hatte. Ihr Vater, Dr. Anton Becker [Hanns Zischler], ein NS-Beamter, der im Propagandaministerium mit Filmen gearbeitet hatte, kommt aus einem brennenden Haus heraus, mit Filmdosen beladen. Hier sehen wir wieder das Motiv vom Film-im-Film. Nazi Propagandafilme und spätere Gewalt- und Pornographiefilme – ihr aktuelles kulturelles Erbe – betonen die Macht der Filme, entweder Böses oder Gutes zustande zu bringen. Wenders Filme sollen das Gegenteil von solchen Filmen sein. Es sind Filme, die den Schaden solcher Schandfilme wiedergutmachen sollen. Noch konkretere Beispiele davon werden bald zu sehen sein. Im alten Adler damals zieht sich die junge Hanna einen lockeren Milchzahn aus dem Mund und versteckt ihn zur Aufbewahrung in einer solchen NS-Filmdose, die sie unter den Rücksitz des Autos deponiert. (Nachdem Cassiel daran erinnert wird, findet er den Zahn wieder und zieht den spektralen Geisterzahn hervor, um ihm Raphaela zu zeigen.)

Der Vater von Hanna verspricht ihrem Bruder, Anton Becker Junior [Tilman Vierzig], dass er in Amerika viele Kameraden haben wird, mit denen er “Bas-a Ball” spielen und ein “Boy Scoot” sein wird. Frau Gertrud Becker [auch von Monika Hansen gespielt] hat aber mit den Nazis und ihren Lügen die Nase voll. Sie sagt dem Chauffeur, dass sie und ihre Tochter nicht aussteigen werden. Die letzte Maschine aus Berlin, eine dreimotorige Tante JU, muß ohne sie starten. Wir erfahren etwas später, dass Frau Becker in den Nachkriegswirren verschollen war, aber Konrad nimmt sich die kleine Hanna an, als wäre sie seine eigene Tochter.

Mittlererweile, oben auf dem Brandenburger Tor, wo die geflügelte Friedensgöttin in Schadows Quadriga sitzt, treffen sich geflügelte ewige Wesen, um die Themen Zeit und menschliches Leben zu beprechen, anhand von dem Milchzahn der jungen Hanna. Cassiel knüpft an das Getippte in der Schreibmaschine an und führt den Gedanken weiter: “Wenn ihnen die Zeit nichts als ein Schmerz wäre, dann wäre doch ihre Vollkommenheit ganz um sonst. Dieses kleine Stück Mensch ist vollkommen. Ein Zahn! Wer ihn betrachtet, der sieht ein Gesicht, der sieht Augen, der hört einen Atem ...” Es ist natürlich das Gesicht der heutigen Hanna.

Winter geht in den Keller eines illegalen Vertuschers, aber auch ihm geht die Zeit durch den Kopf: “ ... im Übrigen ergibt sowieso das ganze Gehabe der meisten Leute wenig Sinn; es ist nur Zeitvertreib, Spielchen, Zeit schinden, alles Kellerbewohner, wenn man es genau nimmt ...”

In der nächsten, sehr wichtigen Szene beobachtet Cassiel eine Gruppe Jugendlicher in einer U-Bahn Station, welche sich für Waffen interessieren, weil man dann auch damit Banken überfallen könnte. Eine zweite Gruppe tauscht mit der ersten harte Videos gegen eine Pistole, mit der der Leiter der ersten Gruppe seinen Vater umbringen möchte. Cassiel merkt wohl, wo die Pistole versteckt wird, und nimmt auch ihr Spektralbild kurz in die Hand.

Jetzt geht’s ab in die Grosse Hamburgerstrasse, rechts von der Sophienkirche, in die zukünftige Pizzeria von Damiel. Damiel überlegt sich, wie das ist, Mensch zu sein, denn er kann an verschiedene Sachen auf einmal denken und vieles hervorbringen, auch das, was es vorher nie gegeben hat. Cassiel bläst leicht in sein Ohr, was ein Klingeln verursacht. “Ach, Cassiel, es ist ein Jammer. Du wirst nie wissen, wie meine Pizza schmeckt!” sagt er.

Das Telefon klingelt. Es ist die kleine, süße Doria [Camilla Pontabry], seine Tochter, die mit der Mutter und den anderen Akrobaten in einem Atelier in den Hackischen Höfen beim Üben dabei ist. Mit ihrem Vater spricht sie Italienisch (der Schweizer Bruno Ganz hat eine italienisch sprechende Mutter), aber auch Französisch, Englisch und Deutsch, denn diese neue Familie ist eine Familie für die ganze Welt, jenseits aller Grenzen, auch der Sprachgrenzen. Cassiel kommt sofort hinzu und hört sich das Ende des Telefonats dort an. Nachdem die Arbeit vorbei ist, wird in den Hackischen Höfen dort Tango getanzt und auf Gummiseilen das Bungee-Fliegen geübt.

Es trifft sich, dass auch dort eine Kunstausstellung der Werke des Zeichners Peter Falk stattfindet. Jetzt, wo er zum ersten Mal in Ostberlin ist, möchte er dem Gedränge der oft zu blauäugigen Bewunderer entgehen und sich die Gegend ansehen.

Wir erfahren, dass Marion wieder Serviererin geworden ist, wie im ersten Film vorausgesagt, und zwar in einem Lokal, das Fegefeuer heißt, ein Wort, dessen Bedeutung uns bald bewußt wird. Inzwischen kuscheln sich Damiel und Doria aneinander, denn es wird spät, und die Mama muß ja jobben. Damiel klingelt es schon wieder im Ohr und Doria weiß, es ist wieder sein Freund, dieser Taugenichts. “Taugt er wirklich zu nichts?” fragt die kleine auf Italienisch. “Er kann Hasen machen” gibt Damiel zu, und wirft einen Hasenschatten an die Wand. “Ach, das kann doch jeder,” erwidert Doria und macht es ihm nach. “Er kann auch Wölfe” sagt Damiel und macht es ihr vor, dem Hasen bedrohend. Aber dann ist er überrascht, einen Schutzengel über dem kleinen Hasen zu sehen, der von Cassiel stammt. “Cassiel, zieh’ Leine” brummt er.

Die Szene wechselt in die Fegefeuer über, wo Winter über seinem Drink brabbelnd weilt. Seine bierseligen Grübeleien über die Nacht, die auf den Hund gekommen sei, veranlassen Marion zu sagen: “Memory has gone to the dogs as well” [Das Erinnern ist auch auf den Hund gekommen], was genausowenig blöd klingen würde, außer, dass in diesen Filmen das Erinnern genau das ist, was dem menschlichen Leben Sinn verleiht, nämlich das Erinnern an das ewige Wesen unserer Existenz. Das könnte sogar als Motto für diese Filme fungieren.

Wie dem auch sei, wenn Winter nachher aus dem Fegefeuer torkelt, allerdinngs immer noch vom Schutzengel bewacht, überlegt er bei sich eine Levitenlesung, die er einem Klienten, einem gewissen Mr. Baker, halten möchte. Auf einmal stößt er mit Peter Falk zusammen, eine Situationskomik, die an die Szene im ersten Film mit den jungen Menschen in der Pampe vor dem Anhalterbahnhof erinnert.

In der teuren Hotelsuite (im 6. Stock des Hiltons am Gendarmenmarkt) von Baker angekommen findet Winter ein Pokerspiel in einem Gangstermilieu mit betont osteuropäischem Geschmack in vollem Gange vor. Mr. Tony Baker [Horst Buchholz] spricht ein interessantes Gemisch zwischen Amerikanisch und veramerikanisiertem Deutsch. Es ist also dieser Mr. Baker gewesen, der den Winter anstellte, um Hanna und Konrad zu beschatten. Wir hegen aber weiter einen Verdacht aus dem, was ihm Winter sagt, dass Mr. Baker auch der junge Anton Becker gewesen sein muß, der seinen Vater auf jenem letzten Flug aus Berlin begleitet hat. Wenn dies stimmt – und wir sehen später, dass es genau stimmt – merken wir, wie das Übel der NS-Vergangenheit nun umgemodelt sei, in der Person eines amerikanischen Hochstaplers, Erbe des NS-Filmmachers, der mit dubiosen Deals in den Ostblockstaaten beschäftigt ist, nach Deutschland zurückgekehrt. Wir werden bald mehr darüber erfahren.

In einem nahegelegenen Hiltonzimmer, Nummer 612, überlegt sich nun der amerikanische Rockstar Lou Reed, was er am Abend davor komponiert hätte aber nun bis auf zwei Zeilen total vergessen hat: “In Berlin, after the Wall; it’s very nice, it’s paradise ...” [In Berlin nach der Mauer; es ist sehr schön, es ist das Paradies]. Er erinnert sich nur, er war im Auto, es regnete ... Die Kamera geht den gleichen Weg nochmal bis sie wieder auf Peter Falk stößt, der sich immer noch Berlin ansieht. Er spricht mit einem Taxifahrer über sein Fahrziel, die Rummelsburgstrasse, aber der Fahrer ist verwirrt: er kenne nur einen Ortsteil, der Rummelsburg heißt, denn, wenn diese Straße im Osten sei, kenne er sich da nicht aus, er fahre nie im Osten. Falk erinnert ihn daran, dass er jetzt im Osten sei, dass vor ein paar Jahren eine Mauer abgebaut wurde. “For me it was a big thing.” [Für mich war das etwas Grosses.]

Raphaela und Cassiel setzen ihren Engelsdialog auf dem Brandenburger Tor fort. Sie beklagen die Hartherzigkeit der Menschen heutzutage. Früher konnten die Engel ihnen erscheinen und ihnen sagen: “Fürchte dich nicht, denn ich verkünde dir ...” “Heute werden den Menschen Tag für Tag neue Lügen verkündet. Und immer lauter, gemeiner und aufdringlicher, so dass sie abgestumpft sind und unsere Botschaft nicht mehr heraushören können.” Raphaela zitiert dann aus dem Matthäusevangelium Kapitel 13, Vers15: “Aber das Herz dieses Volkes ist verstockt; ihre Augen sind verschlossen, und ihre Ohren hören schwer, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen, mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen.”

Cassiels darauffolgende Aussage, im Konjunktiv beginnend, zeigt wie weit er seit dem ersten Film gekommen ist, dass er begonnen hatte, sich zur Menschwerdung Gedanken zu machen, dass die Aufmunterung durch Peter Falk und Damiel bei ihm Wurzeln geschlagen hat: “Wie gern wäre ich einmal einer von ihnen, mit ihren Augen sehen, mit ihren Ohren hören, und enträtseln, wie sie die Liebe empfinden und die Welt wahrnehmen! Einer von ihnen sein! Um so dem Licht ein hellerer Bote zu sein in dieser dunklen Zeit.” Cassiel nimmt für heute von Raphaela Abschied, aber der Abschied wird ein außerordentlicher sein.

Durch all diese disparaten Szenen, welche die Handlungsfäden weiter hinausspinnen, bewegt sich der Film nun auf einen sehr wichtigen Augenblick zu. Cassiel, der früher mit Flügeln bei der kleinen Raissa als Schutzengel immer zu finden war, sieht sie jetzt vom Balkon fallen, was an seine frühere Erfahrung mit dem Selbstmörder im ersten Film stark erinnert, der ihn so traumatisiert hatte, dass er nachher selbst mit dem Fallen experimentierte.

Sehr furchterregende Musik begleitet Raissas Fall vom Balkon und ihre Schreie. Dann, plötzlich, in voller Farbe, steht Cassiel da, um sie aufzufangen. Er hat den Fall vorausgesehen (er bestizt als Engel das so-gennante zweite Gesicht) und hat sich im Nu entschieden, Mensch zu werden, damit er sie retten kann. “Raphaela,” denkt er, “es ist geschehen. Jetzt bin ich einer von ihnen geworden.” Sein erstes menschliches Wort: “Wahnsinn!”

Ein typischer Berliner Drehorgelmann in der Nähe hat anscheinend die Musik für diese Szene gemacht; nur wurde sie anfangs sehr verstärkt und verzerrt, dem ängstlichen Zustand angemessen. Cassiels Brustpanzerung fällt herunter, und nach einem Augenblick auch sein Pferdeschwanz. “Es ist ja so bunt hier!” sagt Cassiel, “alles voller Farben.” Wir verstehen sehr wohl, vom ersten Film her, was das alles zu bedeuten hat.

Von Raissa eingeladen, sich zu ihr zu setzen, versucht Cassiel vorerst, zu fliegen, dann nimmt er seine ersten Schritte. Sie bringt ihm das Flüstern bei und dann das Brüllen: “Wo seid ihr!” ruft er den Engeln zu. Raissa kommt er bekannt vor, obwohl sie nicht wissen kann, dass er ihr in ihren Träumen als Schutzengel beigestanden hat. Sie zieht ihn zurück, als er in die Karl-Liebknechtstrasse in den Verkehr hinauslaufen will: “Paß du mal auf dich auf!!”

Jetzt geht er in einer U-Bahn Station daher und überlegt sich, was er alles machen muß. Das Neonlicht, so sagt er laut zu Raphaela, treibt die Menschen in eine so hohe Geschwindigkeit. “Aber genug für’s erste. Du glaubst ja gar nicht, was alles vor mir liegt, ich muß mich organisieren, planen, nachdenken; ich kann jetzt eingreifen, mitmischen; ich bin jetzt ein Mensch!” Gerade dort stößt er mit einem Typen zusammen. “Gestern war’st noch ‘n Zombie, nu?” Die Mutter des Typen beschwichtigt ihn: “Laß doch, Eduard! Immer pöbelst du die Leute an!”

Jetzt aber beobachtet Cassiel in der U-Bahn ein illegales Hütchenspiel und die wohl seltenste Figur beider Filme überthaupt taucht auf, eine Figur, die noch seltener ist als Engel, Homer oder der Typ Eduard. Sein Name, den er auch laut buchstabiert, lautet Emit Flesti [Willem Dafoe]. Rückwärts buchstabiert heißt es, auf Englisch, Time Itself [die Zeit an sich], und er ist tatsächlich eine Art Allegorie der Zeit in einem Film über die Zeit, eine Art Chronosfigur bzw. Zeitgeist, der sich als amerikanischer Filmgangster manifestiert (vielleicht weil es ausgerechnet in diesem Film einen Tony Baker und sonstige Gangster gibt?), komplett mit deren Wortlaut und Verhalten.

Aber auch seine ersten Worte klingen irgendwie biblisch-allegorisch: “In the beginning, there was no time. After a moment, time began with a splat.” [Am Anfang gab es keine Zeit. Nach einem Augenblick fing die Zeit mit einem Platsch! an.] Dann orakelt er dem staunenden Cassiel weiteres: “There’s a word on your forehead, Cassiel, written with tears. It’s a word for lost, describing someone who wanted to see paradise from the outside and never found his way back. A word waiting to appear, one day, just for the tiniest moment.” [Es steht ein Wort auf deiner Stirn, Cassiel, mit Tränen geschrieben. Es ist ein Wort, das verloren beschreibt, das jemanden beschreibt, der von außen das Paradies sehen wollte und niemals den Weg zurückfand. Ein Wort, das darauf wartet, eines Tages zu erscheinen, nur für den kürzesten Augenblick.]

Als verkörpertes Symbol der zeitlichen Welt, in der Cassiel nun wohnt, fungiert Emit Flesti auch als eine Art Mephistopheles bzw. Luzifer, ein schlauäugiger Versucher, der Cassiel ermuntert, sich am Hütchenspiel zu beteiligen – er kauft ihm den Brustpanzer ab, damit er das Geld dafür hat – aber er läßt ihn auch im Stich als sich die Polizei nähert und er einen Warnpfiff losläßt.

Zu Raphaela, die diesen “old Hunter” [alten Jäger] fragt, was er von Cassiel will, sagt er, dass Cassiel “... just doesn’t belong here: he’s irregular.” [... paßt eben nicht hierher: er ist ordnungswidrig.] Wir beginnen einzusehen, dass Cassiels Menschwerdung vielleicht irgendwie übereilig war und dass er von geborgener Zeit lebt. Später sagt Flesti zu Raphaela in seinem Gassenrotwelsch: “I cut him some slack, but it’s only a question of time until I nail his ass.” [Ich laß’ mal vorerst etwas locker, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bevor ich seinen Arsch aufs Kreuz nagle.]

Jetzt zieht er aus der Tasche seine sonderbare Uhr, eine ohne Zeiger, die zwar immer lauter tickt als er sagt: “There’s darkness pouring down, my dear, and it’s deep enough to drown you!” [Es strömt Dunkelheit herab, meine Liebe, und sie ist tief genug, dass du drin ertrinkst!] Als Raphaele ihm vorwirft, in diese Dunkelheit verliebt zu sein, winkt er heftig ab: “Honey! I hate it! It’s rotten and dull. Frankly, it stinks!” [Schatz! Ich hasse sie! Sie ist ganz oberfaul und blöd. Ehrlich gesagt, sie stinkt!] Später werden wir weitere Beweise sehen, die uns überzeugen, dass Flesti nicht einfach eine böse Figur ist sondern eine komplexe Wiederspiegelung einer komplexen Zeit. Genau wie die Zeit selber, kann er dem Guten oder dem Bösen dienen; er ist aus sich selber weder gut noch böse.

Inzwischen holt Damiel Cassiel aus der Gefängniszelle, dann führt er ihn mit nach Hause und bereitet ihm seine erste Mahlzeit. Ihn in der Zelle umarmend sagt er zu ihm: “Mensch! Cassiel!” was natürlich die ganze Sache zusammenfaßt: Cassiel ist jetzt ein Mensch. Cassiel berührt einen der Schornsteinfeger, denn das soll Glück bringen. Dann wird er warm und trocken angezogen und er darf seine erste Olive schmecken und die anderen Wunderdinge, die ihm Damiel verspricht. Er erzählt der kleinen Doria ein Märchen, aber sie bleibt gefasst: ihr Vater erzähle auch solche Geschichten; er wolle vom Himmel gefallen sein.

Am Tag darauf, in Damiels Zeug vorerst gekleidet, geht Cassiel zur U-Bahn Station und holt die Pistole aus ihrem Versteck. “Das erste gute Werk!” frohlockt er. “Das erste von vielen!” Dann wählt er sich einen irdischen Namen aus, Karl Engel, und fährt fort, sich eine Identität zu verschaffen. Beim Kauf von Schnittblumen sticht ihn ein Dorn, und dieser Sterbliche blutet, genau wie Damiel damals auch. Aber dann, als er wegen eines Passes zum Vertuscher geht, den auch Winter frequentiert, zieht er – anscheinend weil er nicht damit gerechnet hatte, Geld zu brauchen – die Pistole hervor und fuchtelt damit herum, in der Tat ein böses Omen: wo er jetzt Mensch ist, beginnt er auch, menschlichen Schwächen zu erliegen.

Nachdem er ein Reklameplakat für Lou Reed sieht, auf dem Lou Reed mit den Suchscheinwerferaugen eines Visionärs porträtiert wird, begibt Karl sich zu der Halle ins Konzert. Vermutlich aus Gewohnheit sucht er einen erhöhten Aussichtspunkt über der Bühne. Lou Reed gibt einen Song zum Besten, dessen Wortlaut später für Karls Bemühungen, sich zu bessern, besonders wichtig sein werden: “Why can’t I be good? Why can’t I act like a man? Why can’t I be good and do what other men can? Why can’t I be good, make something of this life, if I can’t be a god10, let me be more than a wife. Why can’t I be good? Why can’t I be good? Why can’t I be good? Why can’t I be good? I don’t wanna be weak, I wanna be strong. Not a fat, happy weakling with two useless arms, a mouth that keeps movin, with nothin to say, an eternal baby who never moved away,11 why can’t I be good? Why can’t I be good? Why can’t I be good? Why can’t I be good? I’d like to look in the mirror with a feeling of pride, ‘stead of seeing a reflection of failure – a crime – I don’t wanna turn away to make sure I cannot see, I don’t wanna hold my ears when I think about me, why can’t I be good?” [Warum kann ich nicht gut sein? Warum kann ich mich nicht wie ein Mann benehmen? Warum kann ich nicht gut sein und das tun, was andere Männer können? Warum kann ich nicht gut sein, etwas aus diesem Leben machen, wenn ich kein Gott10 sein kann, laß’ mich mehr sein als ein Weib. Warum kann ich nicht gut sein? Warum kann ich nicht gut sein? Warum kann ich nicht gut sein? Warum kann ich nicht gut sein? Ich will nicht schwach sein, ich will stark sein. Kein dicker, glücklicher Schwächling mit zwei unnützen Armen, ein Mund der sich stehts bewegt, ohne etwas zu sagen, ein ewiger Säugling der niemals von zu Haus wegzog,11 warum kann ich nicht gut sein? Warum kann ich nicht gut sein? Warum kann ich nicht gut sein? Warum kann ich nicht gut sein? Ich hätte gern mit einem Gefühl von Stolz in den Spiegel geschaut, statt eine Wiederspiegelung eines Versagers – ein Verbrechen – ich will mich nicht wegdrehen, damit ich mit Sicherheit nicht sehen kann, ich will mir nicht die Ohren zuhalten wenn ich an mich denke, warum kann ich nicht gut sein?]

Am Ende seines ersten Tages begibt sich Karl in das Fegefeuer. Wenn er Marion fragt, was die Männer hier zu sich nehmen, scheint sie ihn vom Alkohol wegsteuern zu wollen und schlägt Kirschsaft vor. Sie beteuert, dass auch Damiel dieses gerne trinkt, aber sie warnt ihn auch, dass Damiel nicht immer das beste Vorbild wäre. Karl fragt, ob die Welt für Frauen und Männer gleich ist. Sie antwortet: “Frauen sind Menschen; sie tragen ein menschliches Licht. Die Männer suchen und suchen, bis sie die Wärme gefunden haben, die ihnen immer fehlt, bis sie verstanden sind. Mehr kann ich dir auch nicht sagen.”

Just zu diesem Zeitpunkt torkelt in diesem buchstäblichen Fegefeuer ein betrunkener Emit Flesti zielbewußt gerade auf Karl zu. Karl scheint ihn nicht wiederzuerkennen. Trotz des Widerstandes von Marion bestellt Flesti einen Doppelkorn für Karl und einen für sich. Dann greift er selbst nach der Flasche, um mehrmals nachzuschenken. Er macht sich in ordinärer Sprache über Karls Frage zu Männern und Frauen lustig, dann kippt Karl endllich vom Stuhl.

Wenn Karl später zu sich kommt, laufen im Fernsehen Nachrichtensendungen über Angriffe auf Asylantenheime in Deutschland und aus dem Jukebox erklingt ein Lied von Jonny Cash und U-2: “I went out walking through the streets paved with gold, lifted some stones, saw the skin and bones of a city without a soul. I went out walking under an atomic sky where the ground won’t turn and the rain it burns like the tears when I said goodby. Yeah I went with nothing, nothing but the thought of you, I went wandering.” [Ich ging hinaus auf die Wanderschaft durch die Straßen, die mit Gold gepflastert, hob einige Steine auf, sah die Haut und Knochen einer Stadt ohne Seele. Ich ging hinaus auf die Wanderschaft unter einem Atomhimmel wo der Boden sich nicht pflügen läßt und der Regen brennt wie die Tränen als ich ‘leb’ wohl’ sagte. Ja, ich ging mit nichts aus, nichts als mit dem Gedanken an dich, ich ging auf die Wanderschaft.] Karl, nun auch ein solcher Wanderer und angehender Alkoholiker, verbringt die Nacht auf einer Steinbank in einer Nische am Flußufer.

Am Morgen sieht er eine Berliner Morgenpost im Wasser treiben mit der Schlagzeile: “Die Welt trauert um Willi Brandt.” “Adios, Compañero!” denkt Karl traurig, ein Zeichen dafür, dass der Altkanzler, Vater der Ostpolitik, welche dazu führte, dass die Teilung Deutschlands ein Ende nahm, auch früher ein Engel sei. Damit gewinnt die Symbolik eine weitere, politische Dimension.

Karls Verfall ist abschüssig: mit der Pistole noch in der Tasche geht er irgendwo hin, um sich ein Frühstück zu kaufen. Der Typ da macht sich über ihn und seine lächerlichen Kupfermünzen lustig, bis Karl wieder die Waffe zuckt und damit herumfuchtelt. Er verläßt den Laden mit einer Flasche Schnapps. Nachher, betrunken, lehnt er sich an eine junge Dame in der S-Bahn Station Hackescher Markt, um sich aus Engelsgewohnheit “in sie hineinzuhorchen.” Dafür kriegt er eine Ohrfeige.

Er klagt in seiner Gedankensprache mit Raphaela: “Das ist also die Einsamkeit, Raphaela. Oh, das ist schlimm, sage ich dir! Keiner hört, was im anderen vorgeht. Keiner sieht dem anderen ins Herz. Niemand fragt mal was, nicht mal nach dem Weg. Was soll ich denn hier überhaupt? Rumlungern und zugucken, wie es ständig Tag wird und wieder Nacht? Nichts macht mir Sinn.” Wenig später sitzt er unter Bäumen in der Nähe des Berliner Domes und sagt: “Ich darf meine Mission nicht aus den Augen verlieren.Wie sehen und hören die Menschen? Im Moment kann ich nur sagen, es ist alles verführerisch schön. Es ist warm, der Abend senkt sich, die Vögel feiern ein Fest, die Farbe des Himmels ist pastellen geworden, nur, dahinter, dahinter sehe und höre ich nicht mehr den Atem der Ewigkeit, nicht mehr die Weltgesetze, nicht mehr das Licht der Liebe ... Für die Menschen, Raphaela, gibt es, glaube ich, kein Dahinter. Es schafft sich jeder in seinem eigenen Hören und Sehen seine eigene Welt. Und darin ist man ein Gefangener, und aus einer Zelle sieht man die Zelle der anderen.” Am Ende der Szene stößt er mit Marion und Doria vor der Pizzaria in der Großen Hamburgerstraße zusammen und scheint total heruntergekommen, am Boden zerstört zu sein.

Raphaela am nächsten Morgen auf dem Brandenburger Tor wieder suchend, drückt der betrunkene und frustrierte Karl Engel ein Hauptproblem der menschlichen Existenz kurz und bündig aus: “Raphaela! Wo bist du? Ich weiß, du bist hier! Gib mir ein Zeichen! Ihr seid alle hier! Heute ist Sonntag. Ich weiß nicht der wievielte Advent. Zeit vergeht so schnell, dafür habe ich nicht die Nerven. Wo seid ihr denn? Das ist doch kein Leben! Das ist kein Leben. Raphaela! Ihr seid doch alle hier, ich weiß es doch, alle seid ihr hier. Ich kann nicht mehr. Wir Menschen sind ja sowas von angewiesen auf das Sichtbare, Raphaela. Nur was wir sehen können zählt, nur daran glauben wir, das Unsichtbare kommt nicht mehr an, nur was wir anfassen können, gibt es für uns auch wirklich.”

Auf der Straße vor der U-Bahn Station Stadtmitte vor dem Hilton Hotel am Gendarmenmarkt bettelnd, brabbelt Karl betrunken über den Schnee von gestern, bis er von Lou Reed höchstpersönlich und jäh unterbrochen wird: “For Christ’s sake, don’t worry about snow. Get up!” [Um Christi – Gottes – Willen, mach dir keine Sorgen um Schnee! Stehe auf!] Es ist vielleicht nur ein Zufall, vielleicht liegt es nur am amerikanischen Slang, dass Lou Reed sich so ausdrückt, aber der Apostel Petrus sagte verblüffend ähnliche Worte einmal zu einem Bettler vor dem Tempel (Apostelgeschichte, Kapitel 3, Verse 6-7): “Im Namen Jesu Christi, stehe auf und wandle!”

Obwohl Petrus dem Mann weiterhin sagte: “Silber und Gold habe ich nicht...” drückt Lou Reed diesem Bettler einen Hundert-Dollar-Schein in die Hand als Karl gerade stammelt: “Ich kenn’ dich! I, I saw your concert: Why, why ... can’t I be good?” [Ich, ich habe dein Konzert gesehen: Warum, warum ... kann ich nicht gut sein?] Reed erwidert: “I swear, if I knew, I would tell you. Come on! You can do it!” [Ich schwöre, wenn ich es wüßte, würde ich es dir sagen. Raff’ dich zusammen! Du kannst es schaffen!] Reed greift ihm zärtlich an die Schulter und streichelt sein Gesicht. Nachher sagt Karl fest entschlossen vor sich: “Why ... why can’t I be good, why can’t I act like a man ... why? Why not?” [Warum ... warum kann ich nicht gut sein, warum kann ich mich nicht wie ein Mann benehmen ... warum? Warum nicht?]

Von nun an versucht sich Karl aus dem Rinnstein zu ziehen. Er entscheidet sich, Philipp Winter zu beschatten, der mit Tony Baker in der Alten Nationalgalerie einen Treff organisiert hatte. (Karl geht dort an einem anscheinend nur für diesen Film aufgestellten Schild vorbei, worauf steht: Zeit ist Kunst.) Während Baker und Winter über den Preis der Fotos vom alten Adler feilschen, auf denen Winters Vertuscher die Figuren von Hanna und Konrad weggezaubert hatte (anscheinend, damit Baker nur die eigentlichen Figuren sehen darf, wenn er bereit ist, für die Negative zu bezahlen), schaut sich Karl die Gemälde an, darunter “Der Tod” von Max Beckmann. Da erlebt er eine Rückblende, ein Déjà-vu-Erlebnis, zurück zur NS-Zeit, wo gerade hier eine Ausstellung der “Entarteten Kunst” abgehalten wurde. Er windet und krümmt sich mit den anderen Engeln vor lauter Schmerz und Ekel auf dem Fußboden, während die gestiefelten Übermenschen sich über diese Kunst laut lustig machen. Auch diesmal verspürt er den Schmerz und windet sich auf dem Boden wieder.

Er geht nachher verlegen aus dem Museum schnell hinaus und springt dem Tony Baker vor den Wagen, dann direkt obendrüber und in das Schiebedach hinein! Hatte er das wohl schon vor, als er Winter beschattete? Jedenfalls spielt Baker mit – höchstwahrscheinlich will er mit der Polizei nichts zu tun haben – er bezahlt ihm seinen Paß, und am Ende bietet er diesem wagemütigen Kerl einen Job an: “... an Angebot you can’t refuse.” [Ein Angebot, den du nicht ausschlagen kannst – übrigens ein bekanntes und zu einem Gangster passendes Zitat aus dem Film Der Pate.]

Jetzt wo er eine Identität, einen Job und einen dunklen Anzug hat, kehrt der nunmehr korrekte und solide Karl Engel mit der gereinigten Leihkleidung zur Pizzaria zurück. Dort trifft er zum dritten Mal auf Emit Flesti. Auch diesmal erkennt er ihn nicht wieder, was nicht erstaunlich ist, denn Flesti ist an sich keine richtige Person sondern die Verkörperung eines abstrakten Prinzips. Flesti zählt einen großen Stoß Geldscheine aus, die ihm vermutlich Damiel eben zugesteckt haben wird. Beim Weggehen dreht er sich plötzlich wieder um und kommt direkt auf Karl zu und orakelt ihm intensiv direkt ins Gesicht: “ Long ago there must have been a golden age of harmony between heaven and earth. High was high, low was low, inside was in and outside was out. But now we have money; now everything’s out of balance. They say: time is money, but they got it all wrong: time is the absence of money. Would you agree, Karl?” [Vor langer Zeit muß es ein goldenes Zeitalter des Einklangs zwischen Himmel und Erde gegeben haben. Oben war oben, unten war unten, drinnen war drinnen und außen war außen. Aber jetzt haben wir das Geld; jetzt ist alles aus dem Gleichgewicht. Man sagt: Zeit ist Geld, aber man irrt sich grundsätzlich: Zeit ist das Nichtvorhandensein von Geld. Würdest du damit übereinstimmen, Karl?]

Karl schaut kurz zu Damiel hinüber. Als er sofort zurückschaut, ist Flesti auf geheimnisvolle Weise schon weg. “Speedy Gonzales”12 erwidert Damiel: tempus fugit, die Zeit vergeht im Fluge. Karl sagt: “Was der in kurzer Zeit zusammenredet. War eine Menge Geld. Hast du Schulden bei dem?” Damiel erwidert: “Tja, es fällt nicht alles vom Himmel. Time is precious!” [Die Zeit ist kostbar!] Was soll man sich bei solchen seltsamen Aussagen denken? Seine Rolle als Kredithai könnte bedeuten, dass sich Damiel bei Flesti Geld von der Zukunft borgen mußte, d.h. ein Hypothek aufnehmen gegen zukünftiges Einkommen, aber am Ende bleibt diese verlockende und spannende Aussage – Zeit ist das Nichtvorhandensein von Geld – so verschleiert wie die Beschriftung des Museumschildes: Zeit ist Kunst.

Zurück zu den Akrobaten in die Hackischen Höfe gekehrt wird der neugeborene Karl von Marion, Doria und den anderen aufs herzlichste begrüßt. Er versucht die elastische Flugvorrichtung und ist begeistert davon, denn es ist wie die alte Zeit, wo er als Engel fliegen konnte. Er ist auch glücklich, als eine Art Kammerdiener dem Tony Baker die Schuhe zu putzen, auch wenn er im Schuh eine Spielkarte findet, denn jetzt kann er endlich den Menschen dienen! Das war ja der Grund, warum er überhaupt Mensch werden wollte. Er zeigt auch eine besonders einfallsreiche Seite, wenn Baker von dem konkurrierenden Gangster und früheren Pokerfreund Peter Patzke (Ronald Nitschke) gekidnappt wird und mit “Betonstiefeln” ausgerüstet werden sollte.

Weil er nun sein Leben gerettet hat, bietet Baker Karl eine Beteiligung an seinem Geschäft an. Vielleicht hatte Karl früher ein bißchen geschummelt, als er Damiel und Emit Flesti erzählte, er sei “stiller Teilhaber: I’m a business partner” [ich bin Geschäftspartner], denn erst jetzt soll er erfahren, was das für ein Geschäft sei. Sie fahren zusammen zu Bakers Warenlager unter dem Flughafen Tempelhof. Baker erklärt, hier hätten die Nazis ihre ganzen Filmbestände deponiert – das wird er von seinem Vater wohl haben – und er hätte das alles zum Spottpreis gemietet bekommen. Karl ist schockiert und entsetzt zu erfahren, dass Bakers Geschäft im großen Format genau das macht, was die beiden Gruppen Halbstarker in der U-Bahn im kleinen gemacht hatten: harte Videos gegen illegale Waffen tauschen. Baker fertigt nämlich Raupkopien von Wichserfilmen für die Leute in den Ostblockstaaten an, wo es einen Hunger danach gibt, weil früher eine Art Puritanismus im Sozialismus dort herrschte. Diese zahlen dann in der einzigen Währung, die sie im Überfluß haben, nämlich mit alten Sowietwaffen, die dort überall herumliegen. Der Schauplatz unter dem Rollfeld legt die Vermutung nah, dass Bakers Geschäft genau das Erbe des NS-Propagandageschäftes seines Vaters sei, dass dort wie hier Filme mit der Gewalt eng zusammenhängen.13

Karl flieht vor Baker und seinem Wachhund Gaddafi durch einen gefluteten Tunnel und über eine Leiter nach oben, aus der dunkelen Hölle dem Himmelslichte wieder zu: “Wie konnte ich mich nur so täuschen, Raphaela? Wie konnte ich denn so blind sein? Kann man denn in die Hölle fahren, ohne das Böse gewollt, ja ohne das Böse überhaupt erkannt zu haben? Und wenn man’s erkannt hat: was macht man dann? Läuft man davon? Hilf mir hier raus, treue Freundin, hilf mir zurück ins Licht. Raphaela, ich komme! Und dann will ich die Zeit nutzen, jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde; nichts soll mich abhalten, nichts soll mich hindern, nichts mehr im Weg stehen, wenn ich hier nur raus komme!”

Obdachlos wie er nunmal ist, geht Karl zurück nach Rüdersdorf, um vielleicht da im alten Auto zu übernachten. Winter befindet sich aber schon dort auf dem Rücksitz eines alten Amerikaners, ungesehen, still vor sich hinrauchend. Karl schläft am Steuer des alten Adlers ein, die Pistole in der Hand. Winter will sich dann wegstehlen, aber Emit Flesti stellt sich auch ein, und zwar mit einer Armbrust, einer anachronistischen und irgendwie allegorischen Waffe, mit der er Winter erschießt. Karl glaubt, von dem Knall jäh aus dem Schlaf gerissen, er hätte seine Pistole abgefeuert. Es ist vielleicht am Ende relativ einfach zu verstehen: Für Philipp Winter ist seine Zeit einfach um. Im Sterben sagt er ja selber: “Jetzt ist der Winter gleich vorbei.” Er versucht Karl zu sagen, dass er gekommen sei, die Gruppe vor irgendeinem Unheil zu warnen, aber dann kann er nicht mehr reden. Das ominöse Ticken der Geheimuhr von Emit Flesti wird wieder hörbar.

Es wird dann an dieser Stelle im Film noch surrealistischer: Jetzt schlurft der alte Konrad mit einem Gewehr herein, dreht das Licht an und spricht mit Karl, der wie ein Engel den toten Winter auf dem Schoß trägt. Konrad glaubt anscheinend, Karl sei irgendein himmlisches Wesen, der gekommen sei, auch ihn zu töten, denn er fragt: “Ja, der ist tot, nich? Sind Sie gekommen, um auch mich zu erschießen? Sind Sie, bist du das also? Ich habe keine Angst vor dir; wie lange kennen wir uns schon und haben uns doch nie gesehen? Ich weiß nicht mal, wie du heißt. Du kennst mein ganzes Leben. Ich, ich erinnere mich an so wenig; wenn man stirbt, mußt du doch wissen, wie man gelebt hat. Komm, erzähl mir meine Geschichte.

Konral verschmilzt anscheinend irgendwie hier den Todesengel mit dem Schutzengel, denn er fängt mit Sie an und geht auf du über. Jedenfalls will er von Karl erfahren, wie er gelebt hat. Und siehe da, Karl kennt ihn ja auch schon seit der Kindheit und kann ihm schon einiges erzählen. Während die beiden Männer schlafen, flüstert aber Raphaela dem alten Konrad noch Wichtiges zu, was ihn stärkt und tröstet, denn er hatte sich beklagt: “Aber einer muß mir doch sagen, ob ich richtig gelebt habe. Ich war, glaube ich, kein sehr mutiger Mann. Korrekt, ja, aber mutig?”

Daraufhin flüstert ihm Raphaela zu: “War das kein Mut, als du damals die kleine verängstigte Hanna zu dir genommen hast?” Konrad erwidert: “Darauf darf man sich nichts einbilden. Das hätte jeder anständige Mensch an meiner Stelle getan: sie hatte doch keine Familie mehr. Ja.” Aber Raphaela erklärt weiter: “Und doch hast du damals begonnen, andere Fragen zu stellen, anders zu denken. Da bist du ein anderer Konrad geworden, einer, der die Welt erklären sollte und es auch konnte, der erzählen mußte, und dem seither tausende und abertausende Geschichten eingefallen sind, Menschengeschichten von der ältesten bis zur letzten, die die anfängliche sein sollte. Du hattest jemanden zu beschützen und warst daran selbst beschüzt: dein Leben hatte endlich einen Spiegel, und ein anderes, noch kleines Leben hat angefangen zu wachsen, weil es in dir, weil es alles, was es braucht, in dir fand. Was soll ich dir noch antworten, Konrad. Du bist einer, der gefunden wurde.” Konrad sagt dann “Danke!” und schreibt diese wichtige Einsicht in sein Tagebuch: “Das...! Ja! Der gefunden wurde! ... Der ... gefunden ... wurde!”

Die Erzählung bestätigt den Verdacht, dass Tony Baker der Sohn von Anton Becker ist und der Bruder von Hanna. Jetzt haben aber Konrad und Karl anscheinend Angst, dass dieser verrufene Gangster seiner Schwester vielleicht etwas antun will, und sie wollen Hanna und Raissa irgendwo verstecken. Konrad fährt Karl mit dem alten Adler in die Stadt. Karl schlägt das Boot, den Alekahn, als Versteck vor. Er sagt Konrad, er habe was vor ...

Und sein Plan beginnt sich vor einer Imbissstube zu entfalten, wie wir sie sehr gut aus diesen Filmen kennen. Aus einem Lautsprecher tönt ein Lied von Simon Bonney: “ ... we are still God’s children ...” [wir sind immer noch Gottes Kinder], und Peter Falk spricht die unsichtbare Raphaela an, die gerade Emit Flesti anflehte, Karl etwas mehr Zeit zu lassen. Jetzt tritt aber Karl hervor, ergreift Falks Hand (eine Umkehrung der Szene im ersten Film, wo er ihm nicht die Hand geben will) und sagt: “You want to talk to somebody: Compañero, talk to me, I am here!” [Du willst mit jemandem reden: Compañero, rede mit mir, ich bin da!] Karl erklärt, dass sein Plan die Erzählung einer Notlüge mit sich bringt: “Can you do it for me, for a very exceptional situation?” [Kannst du das für mich tun, einer sehr außergewöhnlichen Lage wegen?] Falk erwidert: “Casseli: Life is a very exceptional situation.” [Casseli: Das Leben ist eine sehr außergewöhnliche Lage.]

Mit Damiel und den Akrobaten schlagen Karl und Falk dann eine ausgeklügelte Strategie ein, mit komischen Beiklängen – wie auch mit Anspielungen zu den Mission: Impossible! Filmen oder zu der Fernsehserie Kobra, übernehmen Sie! (auch Unmöglicher Auftrag genannt). Sie machen einen Überfall auf das Waffen- und Pornographiedepot unter dem Rollfeld von Tempelhof. Während die Notlüge von Peter Falk und Damiel die staunenden Wächter beschwindelt und ablenkt, steigen Karl und sein Team in die Unterwelt. Karl benutzt den alten Nazifilm, der unter dem Sitz des Adlers aufbewahrt wurde, als Zündschnur: “It’s business, Charlie. If we don’t do it, somebody else will. [Es ist ja nur ein Geschäft, Charlie. Wenn wir’s nicht machen, macht es jemand anders.] Stimmt nicht, Herr Becker, wenn ich’s nicht mache, mach’s niemand. Hier gehört alles in die Luft gejagt, die Gewalt und die Saat der Gewalt.” Die Waffen werden auf den Alekahn geladen, um vielleicht in die See gekippt zu werden. (Sie hier anzuzünden würde ja Menschenleben gefährden.)

Und nun sagen sich die Freunde Lebewohl und Adieu, denn das Lied von Nick Cave mit dem Filmtiteltext “Faraway So Close” wird hörbar. Vielleicht kommt hier das Happy End? Aber im bedeutungsschweren Liedtext selber lauert eine Menge Symbolismus, der andeutet, dass noch viel geschehen muß: “ Empty out your pockets, toss the lot upon the floor. All those treasures, my friend, you don’t need them anymore. Your days are all through dying, they gave all their ghosts away, so kiss close all your wounds and call living life a day. For the planets gravitate around you, and the stars shower down around you, and the angels in heaven adore you, and the saints all stand and applaud you. So faraway, so faraway and yet so close. Say farewell to the passing of the years, though all your sweet goodbyes will fall upon deaf ears. Kiss so softly the mouths of the ones you love, beneath the September moon and the heavens above. And the world will turn without you and history will soon forget about you, but the heavens they will reward you and the saints will be there to escort you. So faraway, so faraway and yet so close. Do not grieve at the passing of mortality, for life’s but a thing of terrible gravity. And the planets gravitate around you and the stars shall dance about you, and the angels in heaven adore you, and the saints all stand and applaud you. So faraway, so faraway and yet so close.” [Entleere deine Taschen, schmeiß alles auf den Boden. All diese Schätze, mein Freund, du brauchst sie nicht mehr. Deine Tage sind mit dem Sterben fertig, sie gaben alle die Geister weg – den Geist auf – also küß deine ganzen Wunden zu und sag dem Leben Aufwiedersehn. Denn die Planeten drehen sich um dich und die Sterne schauern herunter um dich, und die Engel im Himmel beten dich an, und die Heiligen stehen alle auf und spenden dir Beifall. So weit entfernt, so weit entfernt und doch so nah. Sag dem Vergehen der Jahre Aufwiedersehen, obwohl all deine süßen Aufwiedersehen auf taube Ohren fallen werden. Küß so milde die Münder deiner Liebenden, unter dem Septembermond und dem Himmel da oben. Und die Welt wird sich ohne dich umdrehen und die Geschichte wird sich bald deiner nicht mehr erinnern, aber die Himmel werden dich belohnen und die Heiligen werden da sein, um dich zu begleiten. So weit entfernt, so weit entfernt und doch so nah. Sei nicht traurig weil die Sterblichkeit vorbei ist, denn das Leben ist nur eine Sache furchtbarer Schwerkraft. Und die Planeten rotieren mit Schwerkraft um dich und die Sterne werden dich umtanzen, und die Engel im Himmel dich bewundern, und die Heiligen stehen alle auf und spenden dir Beifall. So weit entfernt, so weit entfernt und doch so nah.]

Es gibt auch andere Zeichen dafür, dass der Film nicht ganz zu Ende ist. Obwohl die Version, die man jetzt sehen kann, unerklärlicherweise um ganze 20 Minuten kürzer sein soll, als das, was man in Cannes damals sah, sieht man auch hier wie Tony Baker nervös von seinem Auto aus Ausschau hält und wie ein Gangster von der Patzkebande auch im Auto ankommt. Wir hören die Stimme Patzkes: “At last we have his goods, now all we need is Baker. Get Chomski on the phone.” [Endlich haben wir seine Waren, jetzt brauchen wir nur noch Baker. Ruf den Chomski an.] Trotz übergroßen Schneidens (vielleicht ist ein 165-Minutenfilm für DVD oder fürs Kino unzumutbar lang?) kriegen wir irgendwie doch mit, dass der Alekahn gekapert wurde.

Jedenfalls sollten wir nicht überrascht sein, wenn Emit Flesti auf einem Motorrad an der Bushaltestelle Lustgarten erscheint und Cassiel mitteilt, dass seine Freunde gekidnappt wurden: “You again? [Du schon wieder?] Speedy Gonzales,” sagt Cassiel. Flesti will eine alte Prophezeiung kennen: “You know the old prophesy? In the year of hate, when all that is foreign is despised, by the full September moon, dark riders will invade the harbor, take the ship, with all the hands on board, and sail it into hell.” [Du kennst die alte Prophezeiung? Im Jahre des Hasses, wenn alles Fremde verschmäht wird, unter dem Septembervollmond werden dunkle Reiter in den Hafen einfallen, das Schiff kapern und alle Mann an Bord, und es in die Hölle segeln.] Cassiel glaubt, er hat diese Prophezeiung selber erdichtet. Was soll’s, erwidert Flesti: es sei so geschehen, Patzki halte jetzt Cassiels Freunde als Geiseln, er solle mitkommen, er habe keine Wahl.

Das Wort vom Septembervollmond widerhallt sofort nach dem Septembermond im Liedtext von Nick Cave, und die Sache mit dem “Jahr des Hasses, wenn alles Fremde verschmäht wird” erinnert an den Zustand im ersten Film, den der alte Chauffeur beschrieben hatte, wo jeder Mensch ein Kleinstaat war, mit einem Graben umgeben und durch Sprengladungen vor allem Fremden geschützt. Jetzt erklärt Emit Flesti den Symbolismus etwas weiter. Als sie durch den Wald fahren sagt er über die Schulter zu Karl, hinten auf dem Motorrad: “Let me explain a couple of things. Time is short. That’s the first thing. For the weasel, Time is a weasel. For the hero, Time is heroic. For the whore, Time is just another trick. If you’re gentle, your Time is gentle. If you’re in a hurry, Time flies. Time is a servant, if you are its master. Time is your god, if you are its dog. We are the creators of Time, the victims of Time, and the killers of Time. Time is timeless. That’s the second thing. You are the clock, Cassiel.” [Laß mich ein paar Sachen erklären. Die Zeit ist kurz. Das ist das erste. Für den Gauner ist die Zeit ein Gauner. Für den Helden ist die Zeit heldenhaft. Für die Nutte ist die Zeit nur ein Geschlechtsverkehr mehr. Wenn du sanft bist, ist deine Zeit sanft. Wenn du es eilig hast, fliegt die Zeit. Die Zeit ist ein Diener, wenn du ihr Meister bist. Die Zeit ist dein Gott, wenn du ihr Köter bist. Wir sind die Schöpfer der Zeit, die Opfer der Zeit, und die Töter der Zeit. Die Zeit ist zeitlos. Das ist das zweite. Du bist die Uhr, Cassiel.]

Diese Zeilen erklären sehr genau, wieso Karl die Zeit, Emit Flesti, zu seinem Freund und Helfer gemacht hat, der ihm früher ein Widersacher war. Damals, als er aus der Hölle unter Tempelhof herausklomm, sagte er: “Und dann will ich die Zeit nutzen, jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde ...” Nun nutzt er seine letzte Stunde im Leben, um seine Freunde zu retten. Am Schiffhebewerk am Oder-Havelkanal in Niederfinow angekommen, wird Karl in der Bungeeausrüstung der Akrobaten vorbereitet. “Ich glaube, ich hänge an meinem Leben,” sagt Karl, in Anlehnung an das Hängen in dieser Ausrüstung. “I love being alive, but it’s rushing by so fast.” [Ich liebe es, zu leben, aber es rast so schnell vorbei.] “I can’t do a thing about it,” [Ich kann da gar nichts dagegen machen] sagt die Zeit selber.

Später, als das Boot schon da ist, werden Worte aus dem Filmtitel in ihrem Gespräch eingeflochten: “It’s so far away,” [Es ist so weit weg!] beklagt sich angstvoll Karl Engel, indem er in die Tiefe hinunterschaut. “It’s close” [Es ist nah], erwidert Emit, als er ihn vom Stahlträger ins Leere schubst. “Come on, Cassiel. You weren’t ever scared of heights before.” [Mach mit, Cassiel. Du hast dich früher nicht vor Höhen gefürchtet.]

Nach dem ersten Aufhüpfen klammert sich Cassiel an dem Träger und sagt: “It’ll never work!” [Es wird nie funktionieren!]. Flesti sagt ihm: “Make yourself dead weight: humans are heavy.”14 [Mach aus dir Totenballast: die Menschen sind schwer.14] “Fucking gravity!” sagt dann Karl, im amerikanischen Gassenslang von Flesti die ganze dualistische Problematik des Menschseins ausdrückend. Ob sein letztes Wort, Gravity15 [die Schwerkraft], das Wort war, das ihm auf der Stirn geschrieben sein sollte, ist nicht ohne weiteres feststellbar. Jedenfalls schreit ihm Flesti nach: “So long! ... That was the word on your forehead!” [Leb wohl! ... Das war das Wort auf deiner Stirn!]

Sein Menschliches Gewicht erlaubt es ihm, die kleine Raissa zu fassen und sie in die Sicherheit nach oben zu schnellen. Nachher muß er sterben, Patzkes Kugeln wehrlos ausgesetzt. Er hängt mit ausgestreckten Armen in der Luft, als wäre er gekreuzigt worden.

Flesti, immer noch sein Freund, greift jetzt in die großen Räder der Zeit und bringt diese momentan zum Stillstand, damit die Akrobaten in Zeitlupe aus dem Schiffsbauch heraus die Gangster überwältigen können. Auch die analogen Räder und das Ticken seiner kleinen Uhr verlangsamen sich. Links sieht man Cassiels Leiche baumeln; rechts sieht man, dass er mit Raphaele wiedervereint wurde.

Ihr Engelsdialog geht wieder um Licht und um das Sehen: “Ich bin also heimgekehrt von der Reise, in deine Stimme!” “Deine habe ich immer gehört und alles mit angeschaut, mehr noch: ich habe die Welt durch deine Augen gesehen.” “Die Menschen sehen anders; sie sehen nicht mehr wie wir.” “Ihre Augen sind nur noch gewohnt zu nehmen, sie nehmen wahr, nehmen auf, ihre Blicke geben nicht mehr. Sie haben vergessen, dass das Licht durch das Auge ins Herz fällt und dann aus dem Herzen hinaus durch das Auge nach außen leuchtet. Der Kreislauf ist unterbrochen.” Apropos: Kreislauf unterbrochen startet Emit Flesti die großen Räder der Zeit wieder.

Es ist eigentlich alles irgendwie ein Kreislauf: Cassiel, der hinunterfiel, um Raissa vor dem Fall zu schützen, hat sich mit ihr wieder nach oben erhoben und dadurch sich und seine Freunde gerettet. Als seine Leiche aufs Deck hinuntergelassen wird, nehmen sie ihn aus dem Flugapparat mit einer Zärtlichkeit, die uns an Rembrandt erinnert: Kreuzabnahme. Hier wird ein Freund vom Kreuz genommen, der sein Leben für seine Freunde hingegeben hatte. Ein Engelschor wird hörbar.

Schlußendlich dann, als das Schiff in die untergehende Sonne hinweg dampft, (und man sich fragt, wo sich die Kamera wohl befindet? Antwort: auf einem Kran im zweiten Schiff) wird die Engelsverkündigung vom Anfang des Filmes wieder hörbar, diesmal als Sprechduett von Cassiel und Raphaela: “Ihr, ihr, die wir lieben, ihr seht uns nicht, ihr hört uns nicht, ihr wähnt uns in weiter Ferne, und doch sind wir so nah ... Wir sind die Boten, die die Nähe zu bringen zu denen in der Ferne. Wir sind nicht die Botschaft, wir sind die Boten. Die Botschaft ist die Liebe. Wir sind nichts, ihr seid uns alles. Laßt uns in euren Augen wohnen. Seht eure Welt durch uns hindurch. Erobert euch mit uns den liebevollen Blick... zurück. Dann sind wir euch nah ... und ihr IHM ...”

Damiel spürt das bekannte Klingeln im Ohr. Darauf sagt die kleine Doria: “Ah, c’est Oncle Karl!” “Ja, er ist angekommen!” bestätigt Damiel. Gerade dann hören wir wieder aus dem Off die Stimme von Kurt Bois: “Nous sommes embarqués!” [Wir sind auf dem Weg; wir sind eingestiegen.] Unsere Fahrt durch die Erde soll also der Fahrt von Cassiel gleichen. Die gleichzeitige Widmung an den gestorbenen Kurt Bois, dessen Stimme wir hören, unterstützt die Idee, dass eine Solche Fahrt das Schicksal der Menschheit versinnbildlicht.

Dann läuft der Nachspann und Nick Cave singt noch ein ziemlich langes, bedeutungsträchtiges Lied, “Cassiel’s Song”, eine Art Nachruf auf einen Engel, welcher Nachruf viele Motive der beiden Filme rekapituliert: “We’ve come to bring you home haven’t we, Cassiel? To cast aside your loss and all of your sadness, and shuffle off that mortal coil and mortal madness, for we’re here to pick you up and bring you home, aren’t we Cassiel? It’s a place where you did not belong, where time itself was mad and far too strong, where life leapt up laughing and hit you head on and hurt you, didn’t they hurt you, Cassiel? While time outran you and trouble flew toward you, and you were there to greet it weren’t you, foolish Cassiel? But here we are, we’ve come to call you home and here you’ll stay, never more to stray, where you can kick off your boots of clay, can’t you Cassiel? For death and you did recklessly collide, and time ran out of you and you ran out of time, didn’t you, Cassiel? And all the clocks, in all the world may this once just skip a beat in memory of you, but then again those damn clocks they probably won’t, will they, Cassiel? One moment you are there and then strangely you are gone, but on behalf of us all here, we’re glad to have you home, aren’t we, dear Cassiel?” [Wir sind gekommen, um dich nach Hause zu bringen, nicht wahr, Cassiel? Um all deinen Verlust beiseite zu werfen und all dein Leid und die sterblichen Überreste und den sterblichen Wahnsinn abzuschütteln, denn wir sind hier, um dich abzuholen und nach Hause zu bringen, nicht wahr, Cassiel? Es ist ein Ort, wo du nicht hingehörtest, wo die Zeit selbst böse war und viel zu stark, wo das Leben lachend aufsprang und mit dir zusammenprallte und dir Weh tat, sie taten dir wohl Weh, Cassiel? Während die Zeit dir davon lief und Ärger dir entgegenflog, und du warst da, es zu begrüßen, nicht wahr, närrischer Cassiel? Aber jetzt sind wir da, wir sind gekommen, um dich nach Hause zu berufen und hier bleibst du, nimmermehr umherzuirren, wo du deine Stiefel aus Erdenstaub abstreifen kannst, nicht wahr, Cassiel? Denn der Tod und du, ihr hattet waghalsig einen Zusammenstoß, und die Zeit, die lief dir aus, und du liefst auch der Zeit davon, nicht wahr, Cassiel? Und die ganzen Uhren in der ganzen Welt könnten nur dies eine Mal dir zur Erinnerung einen Tick überspringen, aber das werden sie auch wohl wieder nicht tun, jene verdammten Uhren, nicht wahr, Cassiel? Einen Augenblick bist du da und dann bist du seltsamerweise weg, aber im Namen aller am Ort sind wir froh, dass du wieder zu Hause bist, nicht wahr, Cassiel?]

Was bleibt noch über dieses seltsame Kunstwerk zu sagen? Auf der einfachsten und grundlegensten Ebene versucht Wenders’ Filmpaar den Wert und den Sinn des menschlichen Lebens erneut zu beteuern und zu bejahen. Und das ausgerechnet in einer Epoche, wo sich Weltkriege und Holocaust mit nihilistischen, materialistischen, philosphischen und wirtschaftlichen Bewegungen zusammengetan haben, um der westlichen Menschheit einen Großteil ihres Sinnes und Zweckes, ihres Glückes und ihrer Entschlossenheit zu berauben, die Welt für alle Menschen besser zu machen.

Diese Filme stellen einen Versuch dar, durch die Kunst unsere Perspektive zu erhöhen, durch die Metapher Engel: “Laßt uns in euren Augen wohnen. Seht eure Welt durch uns hindurch. Erobert euch mit uns den liebevollen Blick... zurück. Dann sind wir euch nah ... und ihr IHM ...” Ein Menschenmonad, Mann und Frau, Adam und Eva, eine Gemeinsamkeit, wie es Marion im ersten Film erklärt, ist das Embryo der neuen Gesellschaft, obwohl es andere wichtige Familien hier auch gibt, z.B. Konrad, Hanna und Raissa und am Ende Tony Baker auch, der in die Arme seiner Familie zurückgekehrt ist.

Hören wir uns noch einmal die Worte des Monologs von Marion an: “Nicht nur die ganze Stadt, die ganze Welt nimmt gerade teil an unserer Entscheidung. Wir zwei sind jetzt mehr als nur zwei. Wir verkörpern etwas. Wir sitzen auf dem Platz des Volkes, und der ganze Platz ist voll von Leuten, die sich dasselbe wünschen wie wir. Wir bestimmen das Spiel für alle! Ich bin bereit. Nun bist du dran. Du hast das Spiel in der Hand. Jetzt oder nie. Du brauchst mich. Du wirst mich brauchen. Es gibt keine größere Geschichte als die von uns beiden, von Mann und Frau. Es wird eine Geschichte von Riesen sein, unsichtbaren, übertragbaren, eine Geschichte neuer Stammeltern.”

Es sind kühne Aussagen, obwohl die Existenz der Engel an sich nicht so kühn ist, denn es hat schon Filmengel gegeben, besonders in Amerika (z.B. Ist das Leben nicht schön? aus dem Jahre 1946). Kühner ist, dass in Europa, gerade in Deutschland, wo Religion und Mythos ziemlich tabu sind, religiöse Ideen in einem Kunstwerk einen Platz finden. Wir haben ja die Reaktion zweier Filmkritiker darauf gesehen, die bei dem ersten Film sofort den Totalitarismus gewittert haben. Gibt es außer in diesen Filmen in Europa ähnliche Ideen? Über meinen Kollegen Professor Walter Whipple habe ich ein Gedicht der polnischen Nobelpreisträgerin entdeckt, der Dichterin Wiswawa Szymborska also, aus genau demselben Jahr, 1993, in dem “In weiter Ferne, so nah!” gefilmt wurde. Es heißt:

“Eine Version der Vorkommnisse”

Zu wählen berechtigt,
haben wir wohl lange überlegt.

Die angebotenen Körper waren unbequem
und verschlissen hässlich.

Die Arten und Weisen,
den Hunger zu stillen widerten uns an,
die ungewollte Erbschaft der Eigenschaften
und die Tyrannei der Drüsen
stießen uns ab.
Die Welt, die uns umgeben sollte,
litt pausenlos Zerfall.
Folgen der Ursachen tobten sich auf ihr aus.

Die uns zur Einsicht
vorgelegten Einzelschicksale
verwarfen wir
meist mit Trauer und Grauen.

Es kamen zum Beispiel Fragen auf,
ob es lohne, unter Schmerzen
ein totes Kind zu gebären,
und wozu ein Seemann sein,
der nie das Ufer erreicht.

Wir fügten uns in den Tod,
doch nicht in jeder Gestalt.

Liebe zog uns an,
gut, aber eine,
die ihr Versprechen hält.

Es schreckten uns ab
der Wankelmut der Urteile
und die Nichthaltbarkeit der Werke.

Jeder hätte gern ein Vaterland
ohne Nachbarn
und ein Leben in der Pause
zwischen zwei Kriegen.

Niemand von uns wollte an die Macht
auch nicht sich ihr unterordnen,
niemand wollte Opfer sein
der eigenen und der fremden Illusionen,
es gab keine Freiwilligen
für Aufmärsche, Menschenmassen,
noch weniger für die aussterbenden Stämme
– ohne die aber die Geschichte
auf keinen Fall wie vorgesehen
hätte stattfinden können.

Inzwischen erloschen und erkälteten eine
beträchtliche Anzahl
der gezündeten Sterne.
Es war höchste Zeit für den Entschluß.

Unter zahlreichen Vorbehalten
meldeten sich schließlich
Kandidaten für manche Entdecker und
Propheten, unbekannte Philosophen,
ein paar namenlose Gärtner,
Zauberkünstler und Musikanten,
obwohl aus Mangel an anderen
Berwerbern nicht einmal diese Lebensläufe
sich erfüllen konnten.
Man mußte noch einmal
die ganze Sache überdenken.

Man bot uns eine Reise an,
von der wir bestimmt und bald
zurückkehren würden.

Der Aufenhalt jenseits der Ewigkeit,
die eintönig genug ist,
und ohne Verlauf,
könnte sich nie mehr wiederholen.
Uns befielen Zweifel,
ob wir, alles im Voraus wissend,
tatsächlich alles wissen.

Ob die derart verfrühte Wahl überhaupt
eine Wahl sei,
und ob es nicht besser wäre, sie dem
Vergessen zu überlassen,
und wenn schon wählen – dann dort.

Wir sahen auf die Erde.
Waghalsige bewohnten sie schon.

Eine schwächliche Pflanze
klammerte sich an den Fels
in leichtsinnigem Vertrauen,
der Wind werde sie nicht entwurzeln.

Ein kleines Tier
wühlte sich aus dem Bau
mit einer für uns seltsamen Mühe und Hoffnung.

Wir kamen uns zu vorsichtig vor,
lächerlich, kleinlich.

Bald wurden wir übrigens weniger.
Die Ungeduldigsten kamen uns abhanden.
Sie nahmen die Feuertaufe
– ja, das war klar.
Sie entfachten das Feuer
soeben am steilen Ufer
des wirklichen Flusses.

Einige
traten gar den Rückzug an.
Doch nicht in unsere Richtung.

Und so, als trügen sie etwas gewonnenes? Eine Trophäe?

Es sind also mindestens zwei europäische Kunstwerke verschiedener Gattungen – Film und Lyrik – am ausklingenden XX. Jahrhundert, die sich Gedanken machen und zu Gedanken anregen über den Sinn und Zweck des menschlichen Lebens und die gleiche Metapher gebrauchen: Das Leben ist eine von uns selbst gewählte Existenz.16 Trotz Angst und Unsicherheit haben wir uns demnach für unsere Existenz entschlossen, wir haben uns selber eine Geschichte erstreiten wollen. Wir erkennen demnach die anderen Menschen auf Erden auch als solche an, die unserer Hilfe und unserer liebevollen Unterstützung mehr als würdig sind.

Ohne also, dass Wenders, Ziegler und Handke etwa mit Szymborska kollaboriert hätten, scheint eine solche Ideenhäufung am Ende des XX. Jahrhunderts wieder langsam in den Brennpunkt gerückt zu sein, nachdem sie durch den Totalitarismus eine Zeitlang unsympathisch geworden war. Der Glaube an die immanente Güte und den ewigen Charakter der Menschen wie an die Perfektionierbarkeit der Menschenfamilie ist aber eine ältere Idee, die fast genau zweihundert Jahre früher von dem vielleicht begabtesten Musiker aller Zeiten, Wolfgang Amadeus Mozart, in seiner Zauberflöte dargelegt wurde. Wir werden aber sehen, dass auch im Zeitalter des aufgeklärten Optimismus die Ideen von Mozart gar nicht alltäglich waren, sondern auf ihrer Weise genauso revolutionär und epochemachend für ihr Zeitalter als die Ideen von Wenders, Ziegler, Handke und Szymborska.

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Fußnoten:

1Zum ersten Film gibt es im Handel (z.B. bei Wasmuth im Filmmuseum im Sony Center am Potsdamer Platz in Berlin) ein Filmbuch, Der Himmel über Berlin. Zum zweiten Film gibt es von mir eine Abschrift aller Worte, Songtexte, usw., die ich auf Wunsch per E-Mail mitteilen werde: alan_keele@byu.edu Beide Filme sind auf DVD in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den USA erhältlich.

2Es handelt sich um den Zirkus Alekan, als Insidergag nach dem berühmten Kameramann Henri Alekan benannt, der bei diesen Filmen als Cinematograph fungierte. Im zweiten Film spielt er selbst die Rolle des Chefs einer Akrobatentruppe, die auf einem alten Kahn wohnt, nämlich dem Alekahn.

Hier darf vielleicht nur kurz erwähnt werden, dass diese Filme – über den österreichischen Drehbuchautor Peter Handke – aus einem Gedichtzyklus eines anderen Österreichers, Rainer Marie Rilke, Inspiration geschöpft haben sollen und mit ihm tiefe Ähnlichkeiten aufweisen. Die zehn Duineser Elegien aus den Jahren 1912-22 handeln um Engel und Menschen und Akrobaten. Anfangs scheinen den Menschen die Engel schrecklich und in weiter Ferne. Schlußendlich aber gelangt man zu der Erkenntnis, dass die Engel die Menschen beneiden müssen um ihre handfeste Erfahrung, auch nur mit den einfachen Dingen des Lebens, genauso wie es am Ende des ersten Filmes heißt: “Jetzt weiß ich, was kein Engel weiß.” Mittendrin liegt die große fünfte Elegie, die sich um Akrobaten handelt. Rilke hatte nämlich 1914 in einer Galerie in München ein großes Gemälde von Pablo Picasso, La Famille des Saltimbanques, entdeckt und es liebgewonnen. Sein Freund, der Arzt Wilhelm Freiherr Schenk von Stauffenberg, veranlaßte Rilke an Hertha Koenig zu schreiben, die als Kunstsammlerin dem auch mit ihr befreundeten Arzt bekannt war. Sie hat das Bild gekauft und in ihrer Wohnung in München, in der Widenmayerstraße, aufgehängt. Ein paar Monate später zog der durch den Krieg nun heimatlose Rilke als Gast in eben diese Wohnung. wo er nun tagtäglich das Gemälde studierte. (Heute kann man es in der National Gallery in Washington, DC bewundern.) Kurz: für Rilke stellen die Akrobaten schlicht die Menschenfamilie dar, zwischen Himmel und Erde kunstvoll und mutig vermitteln. Ohne Picasso und Rilke und Handke wären in diesem Film bestimmt keine Akrobaten, kein Zirkus Alekan.

3Robert Phillip Kolker und Peter Beicken: The Films of Wim Wenders. Cinema as Vision and Desire (Cambridge: Cambridge University Press, 1993), Seite 155 und folgende.

4Wer weiß, ob angelsächsische oder französische Beprecher nicht etwa subtil und unterbewußt durch die zweideutigen Titel “Wings of Desire” bzw. “Les ailes du desir” [die Flügel/Fittiche der Begierde/des Begehrens] beeinflußt wurden. Der Originaltitel “Der Himmel über Berlin” ist jedenfalls von solchen versteckten Andeutungen völlig frei. (Wer weiß auch, aus welchen kaufmännischen Erwägungen der Titel so übersetzt wurde!)

5Man hat Wim Wenders einmal im Interview gefragt, warum Peter Falk als anthropomorphischer Engel eine deutsche Großmutter haben könnte. Er gab zu, dass das vielleicht ein Fehler gewesen sei. Ich sehe es ganz anders. Es ist ein Symbol. Natürlich haben alle Menschen zwei Eltern und vier Großeltern. Im Film durfte man dies überspringen, um das Wichtigere unter die Lupe zu nehmen, dass einige Menschen ein gewähltes Leben führen. In diesem übertragenen Sinne hat auch Marion früher in einer Art Präexistenz gelebt, ohne Gemeinsamkeit und ohne Lebensziel. Am Ende des ersten Filmes werden wir sehen, dass sie auch neu geboren wird, ihr Leben nun wählt.

6Leider habe ich bisher das deutschsprachige Original dieses Interviews nicht auftreiben können. Ich suche aber weiter. Die englische Übersetzung des Interviews, nach der ich hier eine deutsche Version provisorisch angefertigt habe, verdanke ich meinem früheren Studenten und Kollegen Prof. Dr. Scott Abbott, der mit Handke und Radakoviƒ eng befreundet ist. Vergl. auch Abbotts Artikel “The Material Idea of a Volk: Peter Handke’s Dialectical Search for National Identity,” Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik,” Bnde. 38/39, Herausgeber: Gerhard P. Knapp und Gerd Labroisse, Seiten 479-494.

7Englisch Extra heißt auch zu deutsch Statist.

8Ein nochmaliger Witz auf den Namen des Kameramannes Henri Alekan, diesmal mit -h-weil das Boot ein alter Kahn ist.

9Wenders teilt uns durch eine DVD-Diskussion mit – auf einer Sonderspur kann man den ganzen Film sehen und sein laufendes Kommentar hören – er habe diesen Namen zu Ehren von Mikhail Gorbachews nunmehr verstorbenen Gattin Raissa gewählt.

10Das klingt, als wäre es gut, ein Gott zu werden. Ein seltsamer Gedanke, der aber in diesem Buch oft vorkommen wird.

11Man merke den Zusammenhang mit dem Stoff dieser Filme. Dieser Satz beschreibt genau den Zustand der Engel, die nicht von ihrem Zuhause auszogen, um Menschen zu werden, bzw. den Zustand der Menschen, die nicht wie Marion, sonstwie aus der Präexistenz auszogen.

12Der Name einer Zeichentrickmaus, die sich immer sehr schnell bewegt. Speedy = Schnelli

13Ein späterer Wendersfilm, “The End of Violence” [Am Ende der Gewalt] greift genau dieses Problem auf: der Film als Bazillenträger der Gewalt.

14Es ist in diesem Zusammenhang äußerst interessant, dass bei seinem Tode Philipp Winter sagte: “Spüre zum ersten Mal, dass ich schwer bin, dass mein Blut ein Gewicht hat. Bin endlich schwer, bin sch ... wer. Gutes Gefühl. Jetzt ist der Winter gleich vorbei.” Wenders kommentiert diese Stelle und behauptet, erst das Schwer machte Winter zu einem wer, zu einem Menschen.

15Gravity [Schwerkraft] ist auch ein wichtiges Wort aus dem Song von Nick Cave, worin es zweimal vorkommt.

16Weil es sehr viel früher entstanden ist, paßt ein Gedicht von Hermann Hesse zwar nicht genau in die Zeit von Wenders und Szymborska, dafür thematisch genau:

“Das Leben, das ich selbst gewählt”

Ehe ich in dieses Erdenleben kam,
ward mir gezeigt, wie ich es leben würde:
Da war die Kümmernis, da war der Gram,
da war das Elend und die Leidensbürde.
Da war das Laster, das mich packen sollte,
da war der Irrtum, der gefangen nahm.
Da war der schnelle Zorn, in dem ich grollte,
da waren Hass und Hochmut, Stolz und Scham.

Doch da waren auch die Freuden jener Tage,
die voller Licht und schöner Träume sind,
wo Klage nicht mehr ist und nicht mehr Plage
und überall der Quell der Gaben rinnt.
Wo Liebe dem, der noch im Erdenkleid gebunden,
die Seligkeit des Losgelösten schenkt,
wo der Mensch der Menschenpein entwunden
als auserwählter hoher Geist er denkt.

Mir ward gezeigt das Schlechte und das Gute,
mir ward gezeigt die Fülle meiner Mängel.
Mir ward gezeigt die Wunde, draus ich blute,
mir ward gezeigt die Helfertaten der Engel.
Und als ich so mein künftig Leben schaute,
da hört’ ein Wesen ich die Frage tun,
ob ich dies zu leben mir getraute,
denn der Entscheidung Stunde schlüge nun.
Und ich ermaß noch einmal alles Schlimme –
“Dies ist das Leben, das ich leben will!”
gab ich zur Antwort mit entschlossner Stimme
und nahm auf mich mein neues Schicksal still.
So ward ich geboren in diese Welt,
so war’s, als ich ins neue Leben trat.
Ich klage nicht, wenn’s oft mir nicht gefällt,
denn ungeboren hab ich es bejaht.

(Ich bin meiner früheren Studentin Martina Aleson aus Wien dankbar, dass sie mich mit diesem Gedicht bekanntgemacht hat.)